Monat: Januar 2019

Das Widerstandsrecht des Art. 20 Abs. 4 GG oder Der Streit um den Tyrannenmord (Teil 1)

Etwa eine Woche lang hat ein Shitstorm gegen meine Person angedauert, der von rechtsextremen Kreisen gesteuert und befeuert wurde. Tausende von Hasskommentaren mit Beleidigungen, Bedrohungen und sogar Mordankündigungen haben mich per E-Mail, über die sozialen Netzwerke und sogar über meinen Arbeitgeber erreicht. Auslöser des Hasses ist ein Tweet an einen Juristenkollegen, der sich mit der Legitimität gewalttätigen Handelns nichtstaatlicher Akteure beschäftigt. Im ersten Teil dieser Serie von Blogartikeln habe ich mich mit der grundsätzlichen Frage beschäftigt, ob und wann die Ausübung von Gewalt im demokratischen Rechtsstaat rechtmäßig ist. Der folgende Beitrag beschäftigt sich mit dem Sondertatbestand des Art. 20 Abs. 4 GG, auf den sich mein Tweet bezieht. Im heutigen ersten Teil dieses Beitrags geht es zunächst um die Entstehungsgeschichte der Norm. Der zweite Teil wird sich mit dem Inhalt und den Grenzen des Widerstandsrechts auseinandersetzen.

Im Jahre 1945 lag Deutschland nicht nur materiell, sondern auch moralisch in Trümmern. Das zwölf Jahre andauernde, „tausendjährige Reich“ hatte nicht nur einen verbrecherischen Angriffskrieg vom Zaun gebrochen und weite Teile Europas verheert, sondern auch Millionen von Zivilisten aus niedrigsten Beweggründen ermordet – in den Konzentrationslagern Auschwitz, Majdanek, Belzec, Treblinka und Sobibor sogar auf industrielle Art und Weise. Der deutsche Staat, eine einstmals stolze Kulturnation, war verantwortlich für einen ebenso traurigen wie singulären Höhepunkt in der Verbrechensgeschichte der Menschheit.

Als Reaktion darauf verlor Deutschland nicht nur einen Teil seines Territoriums, dessen bisherige Bewohner größtenteils vertrieben wurden. Es wurde auch den Besatzungsmächten unterstellt, die für eine gewisse Zeit die deutsche Staatsgewalt ausübten. Dass dies, gerade vor dem Hintergrund des soeben beginnenden Ost-West-Konfliktes, kein Dauerzustand bleiben konnte, wurde den Regierungen in Washington, London und Paris sehr schnell klar. Auf der Londoner Sechs-Mächte-Konferenz im Frühjahr 1948, an der neben den drei westlichen Besatzungsmächten auch die Regierungen der Niederlande, Belgiens und Luxemburgs teilnahmen, wurde der zukünftige Status des westlichen deutschen Landesteils intensiv diskutiert. Die Mächte einigten sich auf einen föderativen Staatsaufbau unter internationaler Kontrolle der Montanindustrie. Damit waren nicht nur die Weichen für die Gründung der Bundesrepublik, sondern auch der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl gelegt, die sich mittlerweile zur Europäischen Union weiterentwickelt hat.

Der weitere Verlauf der Geschichte ist bekannt: Auf dem Konvent von Herrenchiemsee und im Parlamentarischen Rat in Bonn wurde das Grundgesetz erarbeitet, das zunächst die westdeutschen Bundesländer annahmen (lediglich Bayern stimmte nur unter dem Vorbehalt zu, dass mindestens zwei Drittel der übrigen Länder das Grundgesetz ratifzierten). Am 23. Mai 1949 stimmte auch der Parlamentarische Rat mit Ausnahme zweier kommunistischer Abgeordnete für die neue deutsche Verfassung.

Als das Grundgesetz am 24. Mai 1949 in Kraft trat, stellte es einen bewussten Gegenentwurf zur nationalsozialistischen Terrorherrschaft dar, indem es die Menschenwürde als zentralen Verfassungswert benannte und den Katalog der Grundrechte für die deutschen Bürgerinnen und Bürger sowie der Menschenrechte den Normen über den Staatsaufbau voranstellte. In Art. 20 GG fanden sich die Staatsprinzipien der Bundesrepublik: Demokratie, Sozialstaat, Bundesstaat und Rechtsstaat. Das Widerstandsrecht, das heute in Art. 20 Abs. 4 GG normiert ist, fand sich zu jener Zeit aber noch nicht in der Verfassung.

Dabei hatte der Parlamentarische Rat ausführlich über die Einführung eines Widerstandsrechts gegen verbrecherisches Regierungshandeln beraten. Besonders der nationalkonservative Abgeordnete Hans-Christoph Seebohm von der Deutschen Partei (DP, später wechselte er zur CDU und wurde langjähriger Bundesverkehrsminister) forderte vehement, eine Widerstandsregelung in das Grundgesetz aufzunehmen:

„Bei Verfassungsbruch sowie rechts- und sittenwidrigem Mißbrauch der Staatsgewalt wird ein Widerstandsrecht anerkannt. Öffentliche Amtsträger sind in diesen Fällen zum Widerstand verpflichtet.“

Dieses Ansinnen scheiterte ausgerechnet an der SPD, deren einflussreicher Abgeordneter Carlo Schmid darin eine „Aufforderung zum Landfriedensbruch“ zu entdecken vermochte. In einigen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts und der Fachgerichte aus den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik betonte die Judikative allerdings, dass ein solches Widerstandsrecht der Rechtsordnung inzwischen nicht mehr fremd sei.

Damit hätte es sein Bewenden haben können. Doch im Jahre 1968 verabschiedete der Deutsche Bundestag vor dem Eindruck des sich verschärfenden Ost-West-Konflikts sowie zunehmender Proteste von Studierenden und anderer Teile der Bevölkerung die Pläne für eine Notstandsverfassung. Neben der militärischen und politischen Begründung für die neuen Grundgesetz-Regelungen über den Ausnahmezustand, den Spannungsfall, den Verteidigungsfall und den Katastrophenfall trat der Wunsch der Bundesregierung, weitere Souveränität gegenüber den alliierten Mächten zu erhalten, deren Notstandsrechte erst mit dem Beschluss der Notstandsverfassung erloschen.

In der Politik und in der allgemeinen Öffentlichkeit fand diese Grundgesetzänderung ein geteiltes Echo. Während viele in ihr eine Stärkung der westdeutschen Demokratie sahen, die mit den neuen Regelungen auch für politisch und militärisch schwierige Zeiten gewappnet war, befürchteten andere Zustände wie am Ende der Weimarer Republik, in der immer kürzer amtierende Regierungen nur noch mittels Notverordnungen regieren konnten – was am Ende geradewegs in die nationalsozialistische Diktatur führte.

Zur Beruhigung der Kritik entschied sich die parlamentarische Mehrheit daher im Juni 1968 und damit rund einen Monat nach Verabschiedung der Notstandsgesetze dazu, auch das Widerstandsrecht in das Grundgesetz aufzunehmen. Damit sollte einerseits Misstrauen in der Bevölkerung gegen einen zu autoritär auftretenden Staat abgebaut und andererseits klar gestellt werden, dass der Schutz des demokratischen Rechtsstaats nicht allein der öffentlichen Gewalt obliegt, sondern zugleich Aufgabe jeder  Staatsbürgerin und jedes Staatsbürgers ist. Denn der neue Art. 20 Abs. 4 GG ist zwar als ultima ratio für die akute, schwerste Bedrohung bzw. den Fall des demokratischen Rechtsstaats ausgestaltet, kann aber zugleich als „Jedermannsrecht“ von jeder und jedem Einzelnen unabhängig von Stellung, Beruf oder Amtsträgereigenschaft in Anspruch genommen werden.

Zugleich beendete die Verabschiedung des Art. 20 Abs. 4 GG auch eine jahrzehntelange Debatte über die Frage, ob die Widerstandstaten gegen das verbrecherische Regime der Nationalsozialisten gerechtfertigt gewesen seien. Denn das Hitler-Regime hatte sich seit der Machtergreifung im Jahre 1933 stets mit dem Schein der Legalität ummantelt und versucht, auch nur die Vermutung eines revolutionären Umbruchs zu widerlegen. Die Gesetze des Kaiserreichs und der Weimarer Republik galten formal weiter, und der nationalsozialistische Gesetzgeber begnügte sich mit „Korrekturen“: Erst strich er Juden und andere Gegner aus dem Kreise der „Volks-“ , dann aus dem der „Rechtsgenossen“, und nach dem sozialen Tod folgte die physische Vernichtung. Der Reichstag wurde erst angezündet, dann komplett ausgeschaltet. Nationalsozialistische „Rechtswahrer“ wie der zwar intellektuell brillante, aber moralisch völlig verkommene Rechtsprofessor Carl Schmitt legitimierten nicht nur jedes materielle Unrecht. Sie erklärten auch die Einhaltung formeller Rechtsvorschriften für obsolet, indem sie den Führerbefehl oder auch nur einen (im schlimmsten Fall fiktiven) Führerwillen als gleichwertig mit dem Gesetz oder ihm sogar übergeordnet sahen.

Dennoch waren viele Deutsche in der jungen Bundesrepublik der Ansicht, dass der Widerstand gegen den Nationalsozialismus, wie sie beispielsweise viele Kommunisten und Sozialdemokraten, die Mitglieder der Weißen Rose oder des Kreisauer Kreises geleistet hatten, unrechtmäßig gewesen sei. Noch bis in die 1970er Jahre galten Angehörige des Widerstandes als Vaterlandsverräter, zumal während des Krieges – heute sieht sie die große Mehrheit der Bevölkerung als Helden an. Der Rechtslehrer Gustav Radbruch, der als erster deutscher Professor am 8. Mai 1933 aus dem Staatsdienst entlassen worden war, verfasste kurz nach dem Krieg noch unter dem Eindruck der NS-Staatstätigkeit seine Lehre vom gesetzlichen Unrecht, das dem überpositiven, gerechten Recht weichen müsse. Mit der Kodifizierung des Widerstandsrechts in Art. 20 Abs. 4 GG  hat sich diese Lehre endgültig durchgesetzt. Im Juni 1968 hat der Deutsche Bundestag letztlich auch ein Zeichen dafür gesetzt, dass der Widerstand gegen das verbrecherische Hitler-Regime gerecht und gut war.

Neben dieser historischen Komponente ist das Widerstandsrecht des Art. 20 Abs. 4 GG auch eine geltende Verfassungsnorm, die nur derzeit (glücklicherweise) keinen Anwendungsbereich besitzt und hoffentlich niemals einen besitzen wird. Wie der Tatbestand des Widerstandsrecht heute ausgestaltet ist, wann er eingreift, was er erlaubt und wo seine tatsächlichen und rechtlichen Grenzen liegen, davon soll im folgenden Blogbeitrag dieser Serie die Rede sein.

Der demokratische Rechtsstaat und die Legitimität der Gewalt

Ein Tweet an einen Juristenkollegen hat mir vor einigen Tagen einen veritablen Shitstorm eingebracht. Meine kurze Bemerkung zu Art. 20 Abs. 4 des Grundgesetzes ist von vielen (wider besseres Wissen) als Aufruf zur Gewalt missverstanden worden. Hunderte von Kommentatoren haben sich sehr unsachlich, ohne vertiefte Kenntnis der meinem Tweet zugrunde liegenden Rechtsnormen sowie beleidigend geäußert. Es ist kaum möglich, in sehr kurzen Tweets gebührend auf die geäußerte Kritik einzugehen. Daher antworte ich nunmehr mittels einer Serie von Blogbeiträgen auf die Debatte, beginnend mit ganz grundsätzlichen Gedanken zum Verhältnis von Gewalt und Recht. Der darauf folgende Beitrag wird sich detailliert mit Art. 20 Abs. 4 GG beschäftigen. Danach wird es um die Vorteile gehen, die Rechtsextreme aus mangelnden Kenntnissen ihrer Anhänger sowie Verdrehungen und Falschdarstellungen in den sozialen Medien ziehen, sowie die Mittel bis hin zu Mordaufrufen, zu denen diese Menschen greifen.

Unsere Kultur ist voller Gewalt. Schaltet man an einem beliebigen Abend den Fernseher oder einen Streamingdienst an, schaut in die Regale der Buchhandlungen oder surft durch das Internet – überall begegnen uns Verletzungen, Folterungen und Morde, die uns unterhalten, die uns innewohnende voyeuristische Neugier befriedigen und uns im besten Fall zu einem besseren Menschen erziehen sollen. In der Realität wird Gewalt häufig als Mittel zum Zweck eingesetzt, um ein Ziel zu erreichen. Von Gewalttaten im In- und Ausland hört man täglich in den Nachrichten.

Trotz oder wegen ihrer Omnipräsenz wird Gewalt häufig ebenso pauschal wie naiv verurteilt. Der Satz „Gewalt ist immer falsch“ findet sich tausendfach und zu allen möglichen Themen in den sozialen Netzwerken, und er erntet oft massenhafte Zustimmung. Einerseits ist dies erfreulich, weil es ein Beleg dafür ist, dass Menschen zumindest im öffentlichen Diskurs ein Bewusstsein dafür haben, dass Gewaltanwendung fast immer mit persönlichen Verletzungen, (sozialen) Kosten und gegebenenfalls auch der Mobilisierung von Gegengewalt einhergeht. Aus der Rechtsgeschichte wissen wir, dass der Prozess der Zivilisierung als Abkehr von der privaten Ausübung von Gewalttaten viele Jahrhunderte gedauert hat. Die Rechtssoziologie lehrt uns, dass er bis heute nicht abgeschlossen ist. Andererseits verdrängen wir oft, wenn wir die Gewaltfreiheit postulieren, dass die Zurückdrängung der privaten Ausübung von Gewalt zum Zwecke der Interessendurchsetzung nicht zum Verschwinden der Gewalt als solcher, sondern lediglich zu ihrer Transformation in regelhafte, demokratisch und rechtsstaatlich legitimierte Verfahren durch staatliche Institutionen geführt hat. Nicht umsonst finden wir das Wort Gewalt in Begriffen wie Staatsgewalt oder Verwaltung wieder.

Was aber bedeutet Gewalt überhaupt? Das deutsche Wort Gewalt geht auf  den indogermanischen Wortstamm val zurück. Im Althochdeutschen bedeutete giwaltan bzw. waldan etwas zu beherrschen sowie Stärke und Kraft bzw. Macht zu haben. Anders als etwa im Lateinischen und den mit ihm verwandten romanischen Sprachen wird im Deutschen nicht streng zwischen der violentia als Gewaltaktion, der fortitudo als physikalischer Kraft und der potestas als staatlicher Gewalt unterschieden. Trotz seiner negativen Konnotierung in der Alltagssprache sagt der Begriff auch nichts darüber aus, ob eine Gewaltanwendung im Einzelfall legal oder illegal, legitim oder illegitim ist.

Wenn Juristen von Gewalt sprechen, meinen sie die Anwendung eines Zwangsmittels zur Einwirkung auf einen physischen Zustand oder auf die Willensfreiheit eines anderen Menschen. Diese Unterscheidung von vis absoluta und vis compulsiva ist im Strafrecht evident, gilt aber gleichermaßen für alle anderen Rechtsgebiete und auch für die Handlungen der Staatsgewalt. Beispiele für legale und legitime Gewaltanwendung existieren zuhauf. Staatliche Akteure wie die Bundeswehr, die Polizei und die Geheimdienste, aber auch Gerichte, Finanz- und Ordnungsbehörden, ja selbst Schulen üben täglich Gewalt gegenüber den Rechtsunterworfenen aus. Der Unterschied zwischen einem Rechtsstaat und einem Unrechtsstaat besteht darin, dass der Betroffene staatlicher Gewalt in einem Rechtsstaat die Möglichkeit hat, ihre Legalität in einem rechtsförmigen Verfahren durch unabhängige Gerichte überprüfen und gegebenenfalls korrigieren zu lassen.

Auch Private können nach unserer Rechtsordnung in manchen Fällen völlig legal Gewalt gegen andere ausüben. Das betrifft zum Beispiel die Notwehr bei gegenwärtigen rechtswidrigen Angriffen. Zu den (hier nicht abschließend aufgezählten) notwehrfähigen Rechtsgütern zählt neben der Menschenwürde, dem Leben, der Gesundheit, der körperlichen Freiheit und dem Eigentum auch die persönliche Ehre. In Fällen von Angriffen auf diese Rechtsgüter muss der Angegriffene weder fliehen („Das Recht muss dem Unrecht nicht weichen“) noch auf strenge Verhältnismäßigkeit der Mittel achten. Das ist der Inhalt des alten Rechtssprichworts „Not kennt kein Gebot.“ Einem Angegriffenen ist nämlich nicht zuzumuten, auf ein unsicheres Notwehrmittel verwiesen zu werden. Lediglich bei zwei gleichermaßen vorhandenen erfolgversprechenden Mitteln ist das jeweils mildere zu wählen. Weitere Beispiele sind die Nothilfe von Dritten, die einem Angegriffenen zu Hilfe kommen, sowie der rechtfertigende Notstand.

Es ist also zusammenfassend zu konstatieren, dass Gewalt in demokratischen Rechtsstaaten nicht nur erlaubt, sondern sogar erwünscht ist, wenn sie dem Schutz von Rechtsgütern, der Funktion und dem Erhalt des Staates und seiner Einrichtungen oder dem Allgemeinwohl dient. Um die Grundrechte der von Gewalt Betroffenen zu wahren, gibt es die Möglichkeit, Gewaltakte von Privaten ebenso wie Handlungen der Staatsgewalt durch unabhängige Gerichte überprüfen zu lassen. Die Rede, dass „Gewalt immer falsch“ sei, ist daher als Bekenntnis zu zivilisiertem und rechtskonformem Verhalten in einer friedliebenden Gesellschaft zu verstehen, widerspricht aber dem rechtstatsächlichen Befund. Dass das Postulat der Gewaltlosigkeit zudem höchst problematisch ist, wenn es gegenüber Menschen gelten soll, die selbst illegale bzw. illegitime Gewalt gegen Dritte ausüben, hat nicht zuletzt der Philosoph Karl Popper in seinem Toleranzparadoxon beschrieben.