Kategorie: Geschichte

Weihnachtsmann und Christkind

Während meiner Kindheit an der deutschen Nordseeküste war die Sache ganz klar: An Heiligabend kommt der Weihnachtsmann mit seinem roten Mantel und einem großen Sack und beschenkt die Kinder. Natürlich hatte er auch eine Rute dabei, um die bösen Kinder zu bestrafen. Bisweilen übernahm das allerdings auch sein jutesackbraun gekleideter Gefährte Knecht Ruprecht.

Schon als Kind hörte ich davon, dass in anderen Gegenden nicht der Weihnachtsmann, sondern das Christkind die Kinder beschenkt. Aber was sollte das eigentlich sein, dieses ominöse Christkind? Wohl eine katholische Konkurrenz zum evangelischen Weihnachtsmann. Diese war aber wohl nicht ganz bibelfest, denn das Jesuskind lag in der Krippe und war bis Ostern erwachsen geworden, gekreuzigt und wiederauferstanden. Das Christkind konnte also nicht identisch mit Jesus Christus sein.

Erst als Erwachsener hörte ich von Angriffen auf den Weihnachtsmann. Vielleicht kennen die Kritiker des Weihnachtsmanns die christliche Entstehungsgeschichte des niederländischen Sinterklaas und späteren angelsächsischen Santa Claus nach dem Vorbild des heiligen Nikolaus von Myra nicht. Auch wird das bischöfliche Purpur des Mantels des Weihnachtsmannes, das auf die Gewänder der altrömischen Oberschicht zurückgeht, oft unzutreffend mit dem profanen Rot der Limonadenmarke Coca-Cola verwechselt. Das Unternehmen wirbt schließlich gerne mit dem Weihnachtsmann.

Gelernt habe ich als Erwachsener auch, dass das Christkind einst eine ebenfalls protestantische Erfindung war. Als kindlich-engelartige Allegorie des Weihnachtsfestes fand es allerdings vor allem in katholischen Gegenden schnell Anklang. Auch das Christkind bringt die Weihnachtsgeschenke mit, benötigt anders als der Weihnachtsmann dafür aber keinen großen Sack und klettert auch nicht auf Hausdächer und durch Schornsteine.

Wer ist nun vorzugswürdiger – das Christkind oder der Weihnachtsmann? Meine Antwort darauf fällt ganz eindeutig aus: Weihnachten ist, aus vielen Gründen, das schönste Fest des Jahres. In einer Welt voller Machtstreben, Krieg, Profitgier und Katastrophen braucht es nicht weniger, sondern mehr Weihnachten – und mit dem Fest den Weihnachtsmann und das Christkind. Beide Traditionen haben ihren Platz, weil sie uns (trotz der heutigen Überbetonung des Schenkens) daran erinnern, dass im Leben noch mehr zählt als Gewinnstreben, Erfolg im Job und materieller Besitz.

Die Christen glauben daran, dass an Weihnachten Gott als verletzlicher Mensch in die Welt gekommen ist, um die Menschheit zu erlösen. Daran kann oder will nicht jede*r glauben. Es lohnt sich aber gerade in der Weihnachtszeit, darüber zu reflektieren, was im Leben wichtig und sinnvoll ist und wie wir die Zeit gestalten wollen, die uns gegeben ist. Und sich über die schönen Dinge des Lebens zu freuen. Ich wünsche Ihnen und Euch ein frohes Weihnachtsfest – ganz gleich, wer zuhause die Geschenke bringt!

Das Widerstandsrecht des Art. 20 Abs. 4 GG oder Der Streit um den Tyrannenmord (Teil 1)

Etwa eine Woche lang hat ein Shitstorm gegen meine Person angedauert, der von rechtsextremen Kreisen gesteuert und befeuert wurde. Tausende von Hasskommentaren mit Beleidigungen, Bedrohungen und sogar Mordankündigungen haben mich per E-Mail, über die sozialen Netzwerke und sogar über meinen Arbeitgeber erreicht. Auslöser des Hasses ist ein Tweet an einen Juristenkollegen, der sich mit der Legitimität gewalttätigen Handelns nichtstaatlicher Akteure beschäftigt. Im ersten Teil dieser Serie von Blogartikeln habe ich mich mit der grundsätzlichen Frage beschäftigt, ob und wann die Ausübung von Gewalt im demokratischen Rechtsstaat rechtmäßig ist. Der folgende Beitrag beschäftigt sich mit dem Sondertatbestand des Art. 20 Abs. 4 GG, auf den sich mein Tweet bezieht. Im heutigen ersten Teil dieses Beitrags geht es zunächst um die Entstehungsgeschichte der Norm. Der zweite Teil wird sich mit dem Inhalt und den Grenzen des Widerstandsrechts auseinandersetzen.

Im Jahre 1945 lag Deutschland nicht nur materiell, sondern auch moralisch in Trümmern. Das zwölf Jahre andauernde, „tausendjährige Reich“ hatte nicht nur einen verbrecherischen Angriffskrieg vom Zaun gebrochen und weite Teile Europas verheert, sondern auch Millionen von Zivilisten aus niedrigsten Beweggründen ermordet – in den Konzentrationslagern Auschwitz, Majdanek, Belzec, Treblinka und Sobibor sogar auf industrielle Art und Weise. Der deutsche Staat, eine einstmals stolze Kulturnation, war verantwortlich für einen ebenso traurigen wie singulären Höhepunkt in der Verbrechensgeschichte der Menschheit.

Als Reaktion darauf verlor Deutschland nicht nur einen Teil seines Territoriums, dessen bisherige Bewohner größtenteils vertrieben wurden. Es wurde auch den Besatzungsmächten unterstellt, die für eine gewisse Zeit die deutsche Staatsgewalt ausübten. Dass dies, gerade vor dem Hintergrund des soeben beginnenden Ost-West-Konfliktes, kein Dauerzustand bleiben konnte, wurde den Regierungen in Washington, London und Paris sehr schnell klar. Auf der Londoner Sechs-Mächte-Konferenz im Frühjahr 1948, an der neben den drei westlichen Besatzungsmächten auch die Regierungen der Niederlande, Belgiens und Luxemburgs teilnahmen, wurde der zukünftige Status des westlichen deutschen Landesteils intensiv diskutiert. Die Mächte einigten sich auf einen föderativen Staatsaufbau unter internationaler Kontrolle der Montanindustrie. Damit waren nicht nur die Weichen für die Gründung der Bundesrepublik, sondern auch der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl gelegt, die sich mittlerweile zur Europäischen Union weiterentwickelt hat.

Der weitere Verlauf der Geschichte ist bekannt: Auf dem Konvent von Herrenchiemsee und im Parlamentarischen Rat in Bonn wurde das Grundgesetz erarbeitet, das zunächst die westdeutschen Bundesländer annahmen (lediglich Bayern stimmte nur unter dem Vorbehalt zu, dass mindestens zwei Drittel der übrigen Länder das Grundgesetz ratifzierten). Am 23. Mai 1949 stimmte auch der Parlamentarische Rat mit Ausnahme zweier kommunistischer Abgeordnete für die neue deutsche Verfassung.

Als das Grundgesetz am 24. Mai 1949 in Kraft trat, stellte es einen bewussten Gegenentwurf zur nationalsozialistischen Terrorherrschaft dar, indem es die Menschenwürde als zentralen Verfassungswert benannte und den Katalog der Grundrechte für die deutschen Bürgerinnen und Bürger sowie der Menschenrechte den Normen über den Staatsaufbau voranstellte. In Art. 20 GG fanden sich die Staatsprinzipien der Bundesrepublik: Demokratie, Sozialstaat, Bundesstaat und Rechtsstaat. Das Widerstandsrecht, das heute in Art. 20 Abs. 4 GG normiert ist, fand sich zu jener Zeit aber noch nicht in der Verfassung.

Dabei hatte der Parlamentarische Rat ausführlich über die Einführung eines Widerstandsrechts gegen verbrecherisches Regierungshandeln beraten. Besonders der nationalkonservative Abgeordnete Hans-Christoph Seebohm von der Deutschen Partei (DP, später wechselte er zur CDU und wurde langjähriger Bundesverkehrsminister) forderte vehement, eine Widerstandsregelung in das Grundgesetz aufzunehmen:

„Bei Verfassungsbruch sowie rechts- und sittenwidrigem Mißbrauch der Staatsgewalt wird ein Widerstandsrecht anerkannt. Öffentliche Amtsträger sind in diesen Fällen zum Widerstand verpflichtet.“

Dieses Ansinnen scheiterte ausgerechnet an der SPD, deren einflussreicher Abgeordneter Carlo Schmid darin eine „Aufforderung zum Landfriedensbruch“ zu entdecken vermochte. In einigen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts und der Fachgerichte aus den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik betonte die Judikative allerdings, dass ein solches Widerstandsrecht der Rechtsordnung inzwischen nicht mehr fremd sei.

Damit hätte es sein Bewenden haben können. Doch im Jahre 1968 verabschiedete der Deutsche Bundestag vor dem Eindruck des sich verschärfenden Ost-West-Konflikts sowie zunehmender Proteste von Studierenden und anderer Teile der Bevölkerung die Pläne für eine Notstandsverfassung. Neben der militärischen und politischen Begründung für die neuen Grundgesetz-Regelungen über den Ausnahmezustand, den Spannungsfall, den Verteidigungsfall und den Katastrophenfall trat der Wunsch der Bundesregierung, weitere Souveränität gegenüber den alliierten Mächten zu erhalten, deren Notstandsrechte erst mit dem Beschluss der Notstandsverfassung erloschen.

In der Politik und in der allgemeinen Öffentlichkeit fand diese Grundgesetzänderung ein geteiltes Echo. Während viele in ihr eine Stärkung der westdeutschen Demokratie sahen, die mit den neuen Regelungen auch für politisch und militärisch schwierige Zeiten gewappnet war, befürchteten andere Zustände wie am Ende der Weimarer Republik, in der immer kürzer amtierende Regierungen nur noch mittels Notverordnungen regieren konnten – was am Ende geradewegs in die nationalsozialistische Diktatur führte.

Zur Beruhigung der Kritik entschied sich die parlamentarische Mehrheit daher im Juni 1968 und damit rund einen Monat nach Verabschiedung der Notstandsgesetze dazu, auch das Widerstandsrecht in das Grundgesetz aufzunehmen. Damit sollte einerseits Misstrauen in der Bevölkerung gegen einen zu autoritär auftretenden Staat abgebaut und andererseits klar gestellt werden, dass der Schutz des demokratischen Rechtsstaats nicht allein der öffentlichen Gewalt obliegt, sondern zugleich Aufgabe jeder  Staatsbürgerin und jedes Staatsbürgers ist. Denn der neue Art. 20 Abs. 4 GG ist zwar als ultima ratio für die akute, schwerste Bedrohung bzw. den Fall des demokratischen Rechtsstaats ausgestaltet, kann aber zugleich als „Jedermannsrecht“ von jeder und jedem Einzelnen unabhängig von Stellung, Beruf oder Amtsträgereigenschaft in Anspruch genommen werden.

Zugleich beendete die Verabschiedung des Art. 20 Abs. 4 GG auch eine jahrzehntelange Debatte über die Frage, ob die Widerstandstaten gegen das verbrecherische Regime der Nationalsozialisten gerechtfertigt gewesen seien. Denn das Hitler-Regime hatte sich seit der Machtergreifung im Jahre 1933 stets mit dem Schein der Legalität ummantelt und versucht, auch nur die Vermutung eines revolutionären Umbruchs zu widerlegen. Die Gesetze des Kaiserreichs und der Weimarer Republik galten formal weiter, und der nationalsozialistische Gesetzgeber begnügte sich mit „Korrekturen“: Erst strich er Juden und andere Gegner aus dem Kreise der „Volks-“ , dann aus dem der „Rechtsgenossen“, und nach dem sozialen Tod folgte die physische Vernichtung. Der Reichstag wurde erst angezündet, dann komplett ausgeschaltet. Nationalsozialistische „Rechtswahrer“ wie der zwar intellektuell brillante, aber moralisch völlig verkommene Rechtsprofessor Carl Schmitt legitimierten nicht nur jedes materielle Unrecht. Sie erklärten auch die Einhaltung formeller Rechtsvorschriften für obsolet, indem sie den Führerbefehl oder auch nur einen (im schlimmsten Fall fiktiven) Führerwillen als gleichwertig mit dem Gesetz oder ihm sogar übergeordnet sahen.

Dennoch waren viele Deutsche in der jungen Bundesrepublik der Ansicht, dass der Widerstand gegen den Nationalsozialismus, wie sie beispielsweise viele Kommunisten und Sozialdemokraten, die Mitglieder der Weißen Rose oder des Kreisauer Kreises geleistet hatten, unrechtmäßig gewesen sei. Noch bis in die 1970er Jahre galten Angehörige des Widerstandes als Vaterlandsverräter, zumal während des Krieges – heute sieht sie die große Mehrheit der Bevölkerung als Helden an. Der Rechtslehrer Gustav Radbruch, der als erster deutscher Professor am 8. Mai 1933 aus dem Staatsdienst entlassen worden war, verfasste kurz nach dem Krieg noch unter dem Eindruck der NS-Staatstätigkeit seine Lehre vom gesetzlichen Unrecht, das dem überpositiven, gerechten Recht weichen müsse. Mit der Kodifizierung des Widerstandsrechts in Art. 20 Abs. 4 GG  hat sich diese Lehre endgültig durchgesetzt. Im Juni 1968 hat der Deutsche Bundestag letztlich auch ein Zeichen dafür gesetzt, dass der Widerstand gegen das verbrecherische Hitler-Regime gerecht und gut war.

Neben dieser historischen Komponente ist das Widerstandsrecht des Art. 20 Abs. 4 GG auch eine geltende Verfassungsnorm, die nur derzeit (glücklicherweise) keinen Anwendungsbereich besitzt und hoffentlich niemals einen besitzen wird. Wie der Tatbestand des Widerstandsrecht heute ausgestaltet ist, wann er eingreift, was er erlaubt und wo seine tatsächlichen und rechtlichen Grenzen liegen, davon soll im folgenden Blogbeitrag dieser Serie die Rede sein.

Der demokratische Rechtsstaat und die Legitimität der Gewalt

Ein Tweet an einen Juristenkollegen hat mir vor einigen Tagen einen veritablen Shitstorm eingebracht. Meine kurze Bemerkung zu Art. 20 Abs. 4 des Grundgesetzes ist von vielen (wider besseres Wissen) als Aufruf zur Gewalt missverstanden worden. Hunderte von Kommentatoren haben sich sehr unsachlich, ohne vertiefte Kenntnis der meinem Tweet zugrunde liegenden Rechtsnormen sowie beleidigend geäußert. Es ist kaum möglich, in sehr kurzen Tweets gebührend auf die geäußerte Kritik einzugehen. Daher antworte ich nunmehr mittels einer Serie von Blogbeiträgen auf die Debatte, beginnend mit ganz grundsätzlichen Gedanken zum Verhältnis von Gewalt und Recht. Der darauf folgende Beitrag wird sich detailliert mit Art. 20 Abs. 4 GG beschäftigen. Danach wird es um die Vorteile gehen, die Rechtsextreme aus mangelnden Kenntnissen ihrer Anhänger sowie Verdrehungen und Falschdarstellungen in den sozialen Medien ziehen, sowie die Mittel bis hin zu Mordaufrufen, zu denen diese Menschen greifen.

Unsere Kultur ist voller Gewalt. Schaltet man an einem beliebigen Abend den Fernseher oder einen Streamingdienst an, schaut in die Regale der Buchhandlungen oder surft durch das Internet – überall begegnen uns Verletzungen, Folterungen und Morde, die uns unterhalten, die uns innewohnende voyeuristische Neugier befriedigen und uns im besten Fall zu einem besseren Menschen erziehen sollen. In der Realität wird Gewalt häufig als Mittel zum Zweck eingesetzt, um ein Ziel zu erreichen. Von Gewalttaten im In- und Ausland hört man täglich in den Nachrichten.

Trotz oder wegen ihrer Omnipräsenz wird Gewalt häufig ebenso pauschal wie naiv verurteilt. Der Satz „Gewalt ist immer falsch“ findet sich tausendfach und zu allen möglichen Themen in den sozialen Netzwerken, und er erntet oft massenhafte Zustimmung. Einerseits ist dies erfreulich, weil es ein Beleg dafür ist, dass Menschen zumindest im öffentlichen Diskurs ein Bewusstsein dafür haben, dass Gewaltanwendung fast immer mit persönlichen Verletzungen, (sozialen) Kosten und gegebenenfalls auch der Mobilisierung von Gegengewalt einhergeht. Aus der Rechtsgeschichte wissen wir, dass der Prozess der Zivilisierung als Abkehr von der privaten Ausübung von Gewalttaten viele Jahrhunderte gedauert hat. Die Rechtssoziologie lehrt uns, dass er bis heute nicht abgeschlossen ist. Andererseits verdrängen wir oft, wenn wir die Gewaltfreiheit postulieren, dass die Zurückdrängung der privaten Ausübung von Gewalt zum Zwecke der Interessendurchsetzung nicht zum Verschwinden der Gewalt als solcher, sondern lediglich zu ihrer Transformation in regelhafte, demokratisch und rechtsstaatlich legitimierte Verfahren durch staatliche Institutionen geführt hat. Nicht umsonst finden wir das Wort Gewalt in Begriffen wie Staatsgewalt oder Verwaltung wieder.

Was aber bedeutet Gewalt überhaupt? Das deutsche Wort Gewalt geht auf  den indogermanischen Wortstamm val zurück. Im Althochdeutschen bedeutete giwaltan bzw. waldan etwas zu beherrschen sowie Stärke und Kraft bzw. Macht zu haben. Anders als etwa im Lateinischen und den mit ihm verwandten romanischen Sprachen wird im Deutschen nicht streng zwischen der violentia als Gewaltaktion, der fortitudo als physikalischer Kraft und der potestas als staatlicher Gewalt unterschieden. Trotz seiner negativen Konnotierung in der Alltagssprache sagt der Begriff auch nichts darüber aus, ob eine Gewaltanwendung im Einzelfall legal oder illegal, legitim oder illegitim ist.

Wenn Juristen von Gewalt sprechen, meinen sie die Anwendung eines Zwangsmittels zur Einwirkung auf einen physischen Zustand oder auf die Willensfreiheit eines anderen Menschen. Diese Unterscheidung von vis absoluta und vis compulsiva ist im Strafrecht evident, gilt aber gleichermaßen für alle anderen Rechtsgebiete und auch für die Handlungen der Staatsgewalt. Beispiele für legale und legitime Gewaltanwendung existieren zuhauf. Staatliche Akteure wie die Bundeswehr, die Polizei und die Geheimdienste, aber auch Gerichte, Finanz- und Ordnungsbehörden, ja selbst Schulen üben täglich Gewalt gegenüber den Rechtsunterworfenen aus. Der Unterschied zwischen einem Rechtsstaat und einem Unrechtsstaat besteht darin, dass der Betroffene staatlicher Gewalt in einem Rechtsstaat die Möglichkeit hat, ihre Legalität in einem rechtsförmigen Verfahren durch unabhängige Gerichte überprüfen und gegebenenfalls korrigieren zu lassen.

Auch Private können nach unserer Rechtsordnung in manchen Fällen völlig legal Gewalt gegen andere ausüben. Das betrifft zum Beispiel die Notwehr bei gegenwärtigen rechtswidrigen Angriffen. Zu den (hier nicht abschließend aufgezählten) notwehrfähigen Rechtsgütern zählt neben der Menschenwürde, dem Leben, der Gesundheit, der körperlichen Freiheit und dem Eigentum auch die persönliche Ehre. In Fällen von Angriffen auf diese Rechtsgüter muss der Angegriffene weder fliehen („Das Recht muss dem Unrecht nicht weichen“) noch auf strenge Verhältnismäßigkeit der Mittel achten. Das ist der Inhalt des alten Rechtssprichworts „Not kennt kein Gebot.“ Einem Angegriffenen ist nämlich nicht zuzumuten, auf ein unsicheres Notwehrmittel verwiesen zu werden. Lediglich bei zwei gleichermaßen vorhandenen erfolgversprechenden Mitteln ist das jeweils mildere zu wählen. Weitere Beispiele sind die Nothilfe von Dritten, die einem Angegriffenen zu Hilfe kommen, sowie der rechtfertigende Notstand.

Es ist also zusammenfassend zu konstatieren, dass Gewalt in demokratischen Rechtsstaaten nicht nur erlaubt, sondern sogar erwünscht ist, wenn sie dem Schutz von Rechtsgütern, der Funktion und dem Erhalt des Staates und seiner Einrichtungen oder dem Allgemeinwohl dient. Um die Grundrechte der von Gewalt Betroffenen zu wahren, gibt es die Möglichkeit, Gewaltakte von Privaten ebenso wie Handlungen der Staatsgewalt durch unabhängige Gerichte überprüfen zu lassen. Die Rede, dass „Gewalt immer falsch“ sei, ist daher als Bekenntnis zu zivilisiertem und rechtskonformem Verhalten in einer friedliebenden Gesellschaft zu verstehen, widerspricht aber dem rechtstatsächlichen Befund. Dass das Postulat der Gewaltlosigkeit zudem höchst problematisch ist, wenn es gegenüber Menschen gelten soll, die selbst illegale bzw. illegitime Gewalt gegen Dritte ausüben, hat nicht zuletzt der Philosoph Karl Popper in seinem Toleranzparadoxon beschrieben.

Alexander Gauland
und der letzte Jude von Winnyzja

Wenige Wochen vor der Bundestagswahl im September 2017 äußerte sich Alexander Gauland, der alte und neue Bundessprecher der AfD, in einer Rede vor Parteianhängern wie folgt über die deutsche Vergangenheitsbewältigung:

„Wenn die Franzosen zu Recht stolz auf ihren Kaiser sind und die Briten auf Nelson und Churchill, haben wir das Recht, stolz zu sein auf die Leistungen deutscher Soldaten in zwei Weltkriegen.“

Diese Sicht auf die deutsche Geschichte erstaunt und dient natürlich der offenkundigen Bedienung rechtsextremer Wählerschichten. Historisch, politisch und gesellschaftlich ist sie unhaltbar, denn weder haben französische Kaiser, Admiral Nelson oder Premierminister Churchill völkerrechtswidrige Angriffskriege mit weltweit mehr als 50 Millionen Toten vom Zaun gebrochen, noch waren sie unterstützend daran beteiligt, mehr als 13 Millionen unschuldiger Zivilisten und Kriegsgefangene zu ermorden, davon etliche Millionen auf industrielle Art in den Konzentrationslagern Auschwitz und Majdanek. Diese „Leistungen“ hat allein die nationalsozialistische deutsche Regierung vollbracht – und mit ihr die deutschen Soldaten und der deutsche Verwaltungsapparat. Ganz zu schweigen von den zahlreichen Kriegsverbrechen, die die Wehrmacht, die SS, der SD, die Gestapo und andere in deutschen Diensten in fast ganz Europa und darüber hinaus begangen haben.

Als Reaktion auf dieses geschichtsvergessene, dummfreche und amoralische Zitat, das offenkundig nur dazu dient, den Rahmen des in diesem Lande Sagbaren wieder etwas nach rechtsaußen zu verschieben, ging das obige Bild in den sozialen Netzwerken viral. Da es mir als Antwort auf Gauland sehr passend erschien, habe auch ich es geteilt und dazu die folgenden zwei Sätze auf mein Facebook-Profil geschrieben:

„Das Bild zeigt einen deutschen Soldaten beim Erschießen eines Juden während eines Massenmords in der Ukraine. Was einen Herrn Gauland und seine braunen Spießgesellen daran stolz macht, kann wohl kein geistig normaler Mensch verstehen.“

Für dieses Posting habe ich viel Zuspruch quer durch fast alle politischen Lager erhalten. Es dauerte aber auch nicht lange, bis die ersten empörten Reaktionen von rechtsaußen eintrudelten. Mir wurde beispielsweise vorgeworfen, damit meine Vorfahren zu verraten. Eine andere Kommentatorin erklärte, diese Thematik müsse „auch für unsere Kinder […] endlich mal ein Ende“ haben: „Wie sollen deutsche Kinder Stolz auf das Heimatland erlernen, wenn ihnen so eine Scheisse [sic] präsentiert wird?“Mit dieser Kritik kann ich gut leben, denn right or wrong – my country habe ich noch niemals für eine akzeptable Sichtweise gehalten, und das schließt auch Vorfahren ein, die sich an verbrecherischen Angriffskriegen beteiligt haben. Ob „Stolz auf das Heimatland“ ein im 21. Jahrhundert noch wesentlicher Erziehungsgedanke sein sollte, sei auch einmal dahingestellt.

Ein anderer Kommentator ermahnte mich, „bitte niemals [zu] vergessen“, dass „unsere deutschen Soldaten [im] 2. Weltkrieg einen Eid auf menschenwürdiges Verhalten geschworen“ hätten. Das ist zwar blühender Unsinn, wie man beispielsweise hier nachlesen kann, aber offenbar glauben das manche Zeitgenossen wirklich.

Ein weiterer Diskutant entblödete sich nicht, darauf hinzuweisen, dass das Opfer auch einen Nichtjuden wie zum Beispiel einen Deutschen, Polen, Belgier oder Russen zeigen könne (als ob es keine jüdischen Deutschen, Polen, Belgier oder Russen gäbe) und es möglicherweise nicht wegen seines Glaubens, sondern aufgrund von Sabotage oder Spionage hingerichtet worden sei. Verwundert es da noch jemanden, dass sich dieser einfältige Mensch im nächsten Satz darüber beklagte, ich machte mit meinem Posting die AfD schlecht? Und wie soll man denn eine Partei gutreden, deren Anhänger Opfern des nationalsozialistischen Massenmordes eingebildete Straftaten unterstellen, nur um die Aussage ihres Vorsitzenden noch irgendwie zu rechtfertigen?

Schwerer wiegt da schon der Einwand, das von mir geteilte Bild zeige weder eine Szene in der Ukraine, noch seien deutsche Soldaten daran beteiligt. Ich hatte das nämlich nicht weiter recherchiert und mit n-tv der ersten Nachrichtenseite geglaubt, die dieses Bild ebenfalls verwendete. Wer sich übrigens dafür interessiert, wie damals viele Wehrmachtssoldaten über ihre Mordtaten dachten und worauf der feine Herr Gauland heute stolz sein möchte, der lese den dortigen Artikel gern einmal nach. Kurz zusammengefasst: das Welt-, Menschen- und Frauenbild dieser Naziverbrecher ist zum Kotzen, und die Wehrmachtssoldaten waren gut über die Vernichtung der Juden und „Untermenschen“ informiert.

Was also zeigt dieses Bild? Eine umgekehrte Bildsuche ergibt, dass es auf tausenden Internetseiten angezeigt wird. Teilweise wird als Quelle die Library of Congress angegeben, teilweise das Russische Staatsarchiv. Auch die englische Wikipedia verwendet das Bild in den Artikeln Einsatzgruppen trial, The Holocaust in Ukraine und The last Jew in Vinnitsa. Das Foto befindet sich auch auf der Internetseite des Gedenkstättenportals zu Orten der Erinnerung in Europa, die die Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas betreibt. Dort heißt es zu diesem Bild: „Vermutlich Winniza, um 1942, Erschießung eines ukrainischen Juden, Instytut Pamięci Narodowej“.

Winnyzja bzw. Winniza, in anderen Sprachen auch Ві́нниця, Винница, Winnica, Vinnitsa, Vinnytsia oder Vinica geschrieben, ist eine Großstadt in der Ukraine. Auf der Seite der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas heißt es zu dieser Stadt:

„Vor dem Zweiten Weltkrieg lebten in Winniza etwa 33.000 Juden. Die deutsche Wehrmacht besetzte die Stadt am 19.7.1941. Zuvor hatten ungefähr 17.000 Juden aus Winniza fliehen können. Zusammen mit der Wehrmacht rückten Verbände der Einsatzgruppe C ein. Wenig später errichteten die Besatzer ein Ghetto für die jüdische Bevölkerung von Winniza. Im September 1941 erfolgten die ersten Massenerschießungen in Winniza: Das Polizeibataillon 304 erschoss am 5. September 1941 2.200 Juden, die Polizeibataillone 45 und 314 erschossen mindestens 18.000 Juden am 19. und 20. September. Ende 1941 wurde das Gebiet für »judenfrei« erklärt. Doch unzählige jüdische Facharbeiter aus Winniza und Umgebung mussten bis 1942 Zwangsarbeit beim Bau des Führerhauptquartiers »Wehrwolf« [sic] in der Nähe der Stadt leisten. Von ihnen wurden viele von der SS erschossen. Diejenigen, die die Selektionen überlebten, wurden in Arbeitslager deportiert.“

Der ZDF-Haushistoriker Guido Knopp schreibt in seinem Buch „Der zweite Weltkrieg. Bilder, die wir nie vergessen“ auch über die Erschießung der Juden in Winnyzja:

„Es ist ein erschütterndes Dokument des Holocausts: Umgeben von einer Menge gaffender Zuschauer, darunter auch Angehörige der Wehrmacht, hält ein SS-Mann am Rand einer Grube, in der schon zahlreiche Leichen liegen, einem Mann die Pistole an den Kopf. »Der letzte Jude von Winniza« soll auf dem Originalfoto gestanden haben, das nach sowjetischen Angaben bei einem gefallenen deutschen Soldaten gefunden wurde. Ob dies tatsächlich der Fall war und ob diese Hinrichtung tatsächlich in Winniza stattfand, wissen wir nicht. Was wir aber wissen, dass sich solche Szenen hunderttausendfach im Rücken der Ostfront abspielten.
Die Täter waren Angehörige der »Einsatzgruppen«, die nichts anderes darstellten als mobile Todesschwadrone. Ihre Aufgabe war eindeutig: »die Bekämpfung aller reichs- und deutschfeindlichen Elemente im Feindesland rückwärts der fechtenden Truppe.« Konkret hieß dies: Die rückten im Windschatten der Wehrmacht vor, durchkämmten systematisch die besetzten Gebiete nach ideologischen und rassischen Feinden des Dritten Reichs und ermordeten diese.“

Das ist zwar eine zutreffende Bildbeschreibung, lässt die Frage nach der Herkunft des Bildes und der Identität der abgebildeten Personen jedoch noch immer offen. Eine Bildsuche in den Archiven der israelischen Holocaustgedenkstätte Yad Vashem ergibt, dass das Foto dort dem Massaker an den ukrainischen Juden in Winnyzja im Juli 1941 zugeordnet wird (Archiv-Nr. 2626/4). Das Foto zeige Mitglieder der Einsatzgruppe C, geleitet vom Juristen (!) und Kriegsverbrecher Emil Otto Rasch. Dieser war für rund 80.000 „Sonderbehandelte“ verantwortlich, ein Euphemismus für den Massenmord. Nach der Beschreibung des englischen Wikipedia-Artikels The last Jew in Vinnitsa ist die Datierung auf das Jahr 1941 jedoch unzutreffend, da das letzte Massaker an den Juden des Ortes im Jahr 1942 stattfand. Die handschriftliche Notiz auf der Rückseite des Fotos muss aber natürlich nicht stimmen – sie kann auch der zynische Kommentar eines Mitglieds der Einsatzgruppe sein.

Ein besonders penetranter Fake-news-Rufer auf meinem Facebook-Profil insistierte mehrfach, das Bild zeige keine Szene in der Ukraine, sondern die Erschießung eines Kommunisten in Lettland durch die Waffen-SS. Ich verstehe bis heute nicht, warum es besser sein soll, wenn Herr Gauland auf die Erschießung von Kommunisten durch Soldaten der Waffen-SS stolz ist, als wenn er sich über die Ermordung von Juden durch Wehrmachtssoldaten und Einsatzgruppen freut. Einen Beleg für die Behauptung, das Bild zeige eine Szene in Lettland, habe ich übrigens trotz einer mehrstündigen Recherche für diesen Beitrag nicht finden können.

Was bleibt zu dieser Angelegenheit noch zu sagen? Vielleicht nur, dass es die Rechtsextremisten nicht nur trotz, sondern gerade wegen solcher Aussagen mit 12,6 % in den Deutschen Bundestag geschafft haben. Die AfD gewinnt also Wähler mit geschichtsklitternden Parolen, die früher nur von der NPD vertreten wurden, und fischt bewusst im Trüben. Wer solche Aussagen wie Alexander Gauland tätigt, grenzt sich mitnichten glaubhaft von rechtsextremen Verfassungsfeinden und neuen Nazis ab, sondern stellt sich bewusst an deren Seite. Die oben dargestellten Kommentare der AfD-Anhängerschaft zeigen zudem, welche irrigen Vorstellungen zumindest bei Teilen der Wähler über die schlimmste Zeit der deutschen Geschichte kursieren und dass sie teilweise heroisiert, teilweise bewusst verdrängt und teilweise schlicht ignoriert wird. Das sollten Demokraten jeglicher Couleur diesen Leuten nicht durchgehen lassen. Der politische Kampf gegen die AfD hat gerade erst begonnen.

Geraubte Kunst

Wenn man dieser Tage die Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland in Bonn besucht, kann man eine Ausstellung erleben, die im Grunde aus mehreren Ausstellungen besteht: Es handelt sich um die Bestandsaufnahme Gurlitt – Der NS-Kunstraub und die Folgen.

Wir erinnern uns: Im Jahre 2010 wurde der Münchner Cornelius Gurlitt, Sohn und Erbe des Kunsthistorikers und Kunsthändlers Hildebrand Gurlitt, in einem Zug von Zürich nach München von deutschen Zollfahndern kontrolliert, die 9.000 Euro bei ihm fanden. Daraufhin wurden eineinhalb Jahre später wegen eines Anfangsverdachts auf Steuerstraftaten die Wohnung von Cornelius Gurlitt durchsucht und mehr als 1.200 Kunstwerke beschlagnahmt. Alleine in einem einzigen Koffer haben die Ermittlungsbeamten über einhundert Kunstwerke gefunden. Später wurden noch mehr als 200 weitere Kunstwerke in Gurlitts Haus in Salzburg sichergestellt – teilweise in beklagenswertem Zustand, von Schimmel und Spinnweben befallen.

Originalkoffer aus der Münchner Wohnung von Cornelius Gurlitt, in dem Fahnder über einhundert Kunstwerke fanden.

Die Durchsuchungen und Beschlagnahmen sind rechtlich eher zweifelhaft zustande gekommen. Woraus sich ein Tatverdacht ergibt, wenn jemand beim Grenzübertritt eine erlaubte Menge Geld mit sich führt, bleibt wohl das Geheimnis der bayerischen Behörden. Der Fall geriet Ende 2013 durch Berichte in der Presse in das Bewusstsein der allgemeinen Öffentlichkeit, wobei die Angaben zum Wert der Kunstwerke oft maßlos übertrieben worden sind.

Interessant ist, dass Cornelius Gurlitt alle als belastet geltenden Werke freiwillig zur Überprüfung ihrer Herkunft zur Verfügung gestellt hat und, falls sich der Verdacht von NS-Raubkunst bestätigen sollte, eine faire Lösung mit den Anspruchstellern versprach. Dazu wäre er rechtlich nicht verpflichtet gewesen – zivilrechtlich sind alle Ansprüche auf Rückgabe oder Entschädigung seit langem verjährt, und es gibt kein Gesetz, das Private dazu verpflichtet, die Herkunft ihrer Kunstwerke durch irgendjemanden überprüfen zu lassen. Cornelius Gurlitt verstarb im Mai 2014, in seinem Testament hat er die Stiftung des Kunstmuseums Bern als Alleinerbin eingesetzt.

Was ist nun im Museum zu sehen? Sowohl in der Bundeskunsthalle als auch im Kunstmuseum Bern werden in Parallelausstellungen derzeit Teile der Sammlung Gurlitt gezeigt. Während das Schweizer Museum den Schwerpunkt auf die von den Nazis verfemte „Entartete Kunst“ legt, werden in Bonn rund 250 Werke aus hunderten Jahren Kunstgeschichte gezeigt. Dabei sieht man einerseits eine wunderschöne Sammlung von Gemälden, Zeichnungen und Skulpturen, die Hildebrand Gurlitt, der Vater von Cornelius, als geschmackvoller Kenner und Händler der europäischen Kunst über Jahrzehnte zusammengetragen hat: Kupferstiche von Albrecht Dürer finden sich dort ebenso wie Ölgemälde von Pierre-Auguste Renoir, Zeichnungen von Max Liebermann , Skulpturen von Auguste Rodin oder Grafiken von Karl Schmidt-Rottluff.

Detail des Gemäldes „Kirmes im Dorf“ von Anton Mirou aus dem Jahre 1604.

Die Freude über die Schönheit und Meisterhaftigkeit der Exponate wird aber durch die zweite Ebene der Ausstellung sogleich wieder zunichte gemacht: Sie zeigt, welches Kunstprogramm das nationalsozialistische Deutschland verfolgte, wie es mit der modernen Kunst brach, viele Kunstwerke zerstörte und binnen weniger Jahre in ganz Europa teils durch hohe Geldsummen, teils durch Druck und Verbrechen große Sammlungen aufbaute. Adolf Hitler selbst stellte die Hauptwerke hochrangiger Privatsammlungen zunächst in Österreich, später in ganz Europa unter den so genannten „Führervorbehalt“, der nichts anderes als Enteignungen für die Privatsammlung Hitlers und verschiedene geplante Kunstmuseen in österreichischen Städten bedeutete, darunter das niemals realisierte „Führermuseum“ in Linz.

Für diesen „Sonderauftrag Linz“ war unter anderem Hildebrand Gurlitt zuständig, der mit schier unerschöpflichen Geldmitteln ausgestattet war, um in ganz Europa Kunst anzukaufen. Die Bonner Ausstellung zeigt allerdings auch, dass es dieses oft nicht bedurfte, wenn zum Beispiel die Sammlungen jüdischer oder politisch als feindlich klassifizierter Familien in Frankreich beschlagnahmt wurden. Das Schicksal einer ganzen Reihe von solchen privaten Sammlern wird in der Ausstellung dokumentiert. Neben den Erwerbungen für die Nationalsozialisten erweiterte Gurlitt auch beständig seine eigene Sammlung – ob rechtmäßig oder nicht, ist für viele der gezeigten Werke noch ungeklärt. Neben jedem Bild der Austellung ist daher der aktuelle Stand der Provenienzforschung zu lesen.

Dass sich im Nationalsozialismus alle gesellschaftlichen Schichten der „Volksgemeinschaft“ an geraubten Gütern unrechtmäßig bereicherten, macht diese in der Ausstellung gezeigte Fotografie einer Versteigerung „verwaisten jüdischen Eigentums“ in Lörrach deutlich.

Diese Nachforschung nach der Herkunft und dem Verbleib der Bilder, im Idealfall durchgehend vom Künstleratelier bis ins Museum, ist die dritte Ebene der Ausstellung. Oft sind die Kunstwerke ungenau beschrieben worden – so weiß man oft nur durch Zufall, welches der zum Beispiel drei gezeigten Damenportraits in der Ausstellung in einer bestimmten Auktion verkauft wurde, weil nähere Beschreibungen und der Künstlername fehlen. Im Fall der drei portraitierten Damen gab ein Loch im Gemälde den entscheidenden Hinweis.

Leider ist die Darstellung der Provenienzforschung, deren Methoden die Ausstellung nur in wenigen Ansätzen beschreibt, ein Schwachpunkt in der Konzeption der Bundeskunsthalle. Hier hätte man sich über die gezeigten Texte und Videos hinaus wesentlich mehr Informationen zu Verfahren, Recherequellen und dem Stand der Forschung gewünscht. Auch ein Katalog zur Ausstellung, in dem man dieses Thema hätte vertieft darstellen können, wird schmerzlich vermisst. Darin hätten auch die schwierige Problematik der rückwirkenden Bewertung der „Freiwilligkeit“ von Notverkäufen jüdischer Kunsteigentümer oder so verbrecherische Enteignungen wie die „Reichsfluchtsteuer“ eingehender beschrieben werden können. Positiv zu vermerken ist allerdings, dass auf der Website der Bundeskunsthalle alle gezeigten Kunstwerke in einer Datenbank dargestellt werden und dass Fotografieren in der Ausstellung sowie das Teilen in den sozialen Netzwerken ausdrücklich erwünscht sind – auch das kann schließlich Hinweise darüber bringen, ob Stücke der Sammlung rechtmäßig erworben wurden oder nicht.

Ganz am Ende der Ausstellung erfährt man, dass Hildebrand Gurlitt nach dem Krieg die Entnazifizierungsbehörden und frühere Besitzer von Kunstwerken sowie deren Rechtsanwälte über den Verbleib seiner Geschäftsbücher systematisch belogen hat – die Unterlagen verbrannten nicht in Dresden. Schon im Jahre 1948 war Gurlitt wieder als Leiter des Kunstvereins in Düsseldorf tätig war. Er starb im Jahre 1956 als geachteter Mann durch einen Autounfall und hinterließ seinem Sohn Cornelius ein schwieriges Erbe. Cornelius Gurlitt mied zeitlebens die Öffentlichkeit, sorgte zum Schluss aber dafür, dass unrechtmäßig erworbene Kunstwerke jetzt und in Zukunft an die Rechtsnachfolger der ursprünglichen Eigentümer zurückgehen können. Die Stiftung Kunstmuseum Bern ist als Erbin nämlich an diese Zusage gebunden.

Die Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland hat sich eines schwierigen und für Deutschland schmerzhaften Themas angenommen, das sie überzeugend präsentiert. Dafür gebühren ihr – gerade in Zeiten, in denen die ideologischen Nachfolger der nationalsozialistischen Täter erstmals nach 1945 wieder ins deutsche Parlament eingezogen sind – Dank, Anerkennung und viele Besucher.

Die Ausstellung „Bestandsaufnahme Gurlitt. Der NS-Kunstraub und die Folgen“ ist noch bis zum 11. März 2018 in der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland in Bonn zu sehen. Die Parallelausstellung „Entartete Kunst – Beschlagnahmt und verkauft“ wird noch bis zum 4. März 2018 im Kunstmuseum Bern gezeigt.