Schlagwort: AfD

Schluss mit dem Faschismus!

Philipp Ruch, der Gründer und künstlerische Leiter des Zentrums für politische Schönheit, hat ein Buch mit dem Titel „Schluss mit der Geduld. Jeder kann etwas bewirken. Eine Anleitung für kompromisslose Demokraten“ vorgelegt. Wahrscheinlich handelt es sich um das wichtigste deutschsprachige politische Buch dieses Jahres.

Ruch skizziert zunächst den Aufstieg der AfD, die er zutreffend als faschistisch charakterisiert. Der Autor wertet an vielen Stellen des Buches seine Lektüre des Jahrgangs 1932 der politischen Zeitschrift „Weltbühne“ aus, und die Ähnlichkeiten zwischen den handelnden Akteuren der NSDAP und der AfD sind frappierend. Die Faschisten der damaligen Zeit haben mit den heutigen eine Gemeinsamkeit: Sie sprechen offen aus, was sie vorhaben, wenn sie einmal an die Macht kommen. Normale Menschen nehmen Forderungen wie die Vernichtung der europäischen Juden oder die Vertreibung aller Migranten aus Deutschland zunächst nicht ernst, weil sie sie zu absurd und lächerlich finden – ein schwerer Fehler, wie uns die Geschichte lehrt. Ruch schildert detailliert, wie sehr sich die Aussagen eines Höcke oder eines Kalbitz an jene von Hitler und Himmler anlehnen. Er zeigt auch, dass es die heutigen Faschisten mit ihren verfassungsfeindlichen Ideen eines völkischen Nationalstaats mit einer homogenen Volksgemeinschaft nicht aus eigener Kraft schaffen, an die Macht zu kommen. Sie benötigen dafür die Inszenierung eines Bürgerkrieges. Die ersten Anzeichen sind mit den Hetzjagden von Chemnitz (wie anders sollte man diese skandalösen Vorgänge bezeichnen) und dem Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke deutlich erkennbar. Die heutige SA nennt sich „Combat 18“, „Adolf-Hitler-Hooligans“, „NS-Boys“ oder „Hoonara“ (Hooligans, Nazis und Rassisten). Unterstützt werden die Rechtsextremisten von Bewunderern in Polizei und Verfassungsschutz, die dem demokratischen Rechtsstaat zwar Treue geschworen haben und von ihm leben, ihn jedoch innerlich verachten. Das prominenteste Beispiel hierfür ist der ehemalige Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen – der wohl größte Bock, der in diesem Land jemals zum Gärtner gemacht wurde.

Weil die Faschisten aus AfD, NPD, Identitären usw. allein niemals stark genug sind, um den demokratischen Rechtsstaat zu stürzen, bedienen sie sich politischer Unruhen. Wenn sie den Bürgerkrieg simulieren, so ihre historisch begründete Hoffnung, springen ihnen nach Vorbild der frühen 1930er Jahre die Konservativen zur Seite, um wieder für „Ruhe und Ordnung“ zu sorgen. In einer Koalitionsregierung könnte die AfD wie seinerzeit die NSDAP ihr Zerstörungswerk beginnen, weshalb sie niemals an die Regierung kommen dürfe. Das große Verdienst des Buches liegt darin, klar aufzuzeigen, dass die Existenz der Bundesrepublik als demokratischer Rechtsstaat derzeit so bedroht ist wie niemals zuvor seit ihrer Gründung.

Einen erheblichen Anteil seines Buches widmet Ruch dem Versagen der etablierten Medien, vor allem den politischen Talkshows im öffentlich-rechtlichen Fernsehen. Statt Intellektuelle, Schriftsteller und Künstler nach der Deutung politischer Vorgänge zu fragen, was in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik zu einer fruchtbaren öffentlichen Debatte geführt habe, dürften dort heute fast ausschließlich Spitzenpolitiker Werbung für sich machen. Maischberger, Will, Illner und Co. debattierten ohne Not mit Rassisten und Faschisten. Dabei ist für Ruch klar, dass nur die konsequente Ächtung von NPD, AfD, Identitären etc. weiteren Schaden verhindern könne. Wie sollte man mit diesen Leuten jemals zu einem Konsens kommen? Dass „ein bisschen“ Rassismus ganz in Ordnung ist, dürfe in einem demokratischen Gemeinwesen niemals akzeptiert werden.

So detailliert sich der Autor zurecht über das Fernsehen echauffiert, so wenig interessiert ihn das Internet. Dass sich die rechtsextremen Verfassungsfeinde häufig über das Netz organisieren, in ihrem Rassenhass gegenseitig aufschaukeln und ihre Verbrechen planen, streift Ruch in ein paar Nebensätzen. Online-Petitionen und andere Formen des zivilgesellschaftlichen Protestes gegen die neuen Nationalsozialisten hält er zwar für ehrenwert, aber nutzlos. Auch einige Randbemerkungen Ruchs erscheinen zweifelhaft: Obwohl er immer wieder richtigerweise betont, dass sich jeder Einzelne für die Humanität, die Achtung der Würde von Menschen auf der Flucht und gegen eine Kultur des Wegsehens und des Todes einsetzen müsse, lamentiert er gleichzeitig darüber, dass das fragile und schutzbedürftige Lebensrecht ungeborener Menschen verteidigt wird. Über diese Inkonsequenz kann man jedoch leicht hinwegsehen, weil das Buch insgesamt ein berührendes Dokument des unbedingten Willens zur Humanität ist.

„Schluss mit der Geduld“ ist aber nicht nur eine Zustandsbeschreibung, sondern vor allem ein Weckruf. Ruch stellt konkrete Forderungen an die Regierung, die Medien und seine Leserinnen und Leser: ein neuer Radikalenerlass müsse her, der es unmöglich machen soll, dass die Feinde des demokratischen Rechtsstaates in dessen Institutionen ein- und ausgehen. Faschistische Parteien wie die NPD und die AfD gehören für Ruch verboten. Die Medien müssten endlich aufhören, Angstszenarien der Rechtsextremisten zu verbreiten und sie wie normale politische Diskussionspartner zu behandeln. Wer den demokratischen Rechtsstaat verachte, müsse geächtet werden.

Ruch schildert auch seinen persönlichen Weg, die politischen Verhältnisse in diesem Land wieder gerade zu rücken: Durch Aktionskunst, die sich zwar fiktionaler Mittel bedient, dabei aber stets der Wahrheit und der Menschlichkeit verpflichtet ist. Ruch nennt das, in Anlehnung an eine Sentenz von Gotthold Ephraim Lessing, Maßnahmen politischer Schönheit. Uns allen ist zu wünschen, dass diesem wichtigen Werk viele Leser beschieden sein werden, damit unser Land politisch schöner wird.

Philipp Ruch: Schluss mit der Geduld. Jeder kann etwas bewirken. Eine Anleitung für kompromisslose Demokraten, Ludwig-Verlag München, 191 Seiten, 12 Euro

Wie ich einmal fast ins ARD-Fernsehen gekommen wäre

Am vergangenen Freitag saß ich mit meiner Familie in einem Amsterdamer Café, als das Telefon läutete. Es meldete sich eine Mitarbeiterin des Rundfunks Berlin-Brandenburg (rbb), die für das Fernsehmagazin Kontraste an einem Beitrag über den Rechtsruck in der CDU arbeitete. Sie war bei ihrer Recherche auf meinen Tweet zu Annegret Kramp-Karrenbauer gestoßen, in dem ich meinen Parteiaustritt erklärt hatte, und der zu über 22.000 Reaktionen von Twitterern geführt hatte:

Zu diesem Tweet, meinen früheren ehrenamtlichen Tätigkeiten für die CDU und meine Ansicht zur so genannten Werteunion befragte mich die Journalistin einige Minuten und meinte dann, dass das eine wunderbare Ergänzung zu ihrem Beitrag darstelle – ob ich wohl bereit wäre, dazu in den kommenden Tagen ein Interview aufzuzeichnen?

Da ich gerne Auskunft gebe, wenn man mich etwas fragt, und eine gewisse Eitelkeit mir ebenfalls nicht fremd ist, sagte ich kurzentschlossen zu. Das führte zu einer ganzen Reihe weiterer Telefonate, um einen Termin für die Aufzeichnung des Interviews zu finden. Die Redaktion schlug u.a. vor, dass ich den CDU-Ortsverband Haste (ein Stadtteil von Osnabrück) bei seinem alljährlichen Spargelessen mit meinem Unmut über den Rechtsruck der Partei konfrontieren sollte. Das könnte doch tolle Diskussionen und lebendige Bilder erzeugen. Diesen Vorschlag lehnte ich ab – erstens kenne ich so gut wie niemanden in diesem Ortsverband, zweitens möchte ich niemanden mit einem ARD-Fernsehteam beim Spargelessen stören (schon gar nicht den CDU-Ortsverband Haste, der mit hoher Wahrscheinlichkeit unschuldig am Treiben der so genannten Werteunion ist), und drittens hatte ich an diesem Abend schon einen beruflichen Termin in Hannover.

Wir einigten uns deshalb darauf, am vergangenen Dienstag ein Interview in Hannover zu führen. Ein von mir empfohlenes Restaurant in der Oststadt stellte eigens außerhalb der Öffnungszeiten seine Terrasse zur Verfügung, und zwei Baustellen an der Straße stellten zeitweise ihre Arbeit ein. Nach einem halben Schulungstag an unserer Krankenhausakademie, an der ich ein Seminar über Rechtsprobleme der Sterbehilfe gegeben hatte, kam ich etwas abgehetzt in der Nähe des Drehortes an. Ich bemerkte, dass mir die Haare wild vom Kopf abstanden. Schnell nahm ich deshalb noch einen kurzen Umweg zu einem in der Nähe gelegenen Supermarkt (oben sagte ich ja schon etwas zum Thema Eitelkeit), um einen Kamm oder eine Haarbürste zu erwerben. Allerdings musste ich bald feststellen, dass ich in das einzige Geschäft Mitteleuropas geraten war, das solche Gegenstände in ihrer Abteilung für Hygieneartikel nicht führte. Notdürftig strich ich mir also mit den Fingern die Haare glatt und eilte zum Drehort.

Dort begrüßten mich die Reporterin Cosima Gill, ein Kameramann und ein Mitarbeiter für den Ton. Ich war erstaunt, dass das Team gleich zwei Kameras mitgebracht hatte, während ich doch nur ein einziges Gesicht für den Beitrag zur Verfügung stellen konnte. Frau Gill erklärte das damit, dass sich die ARD für ihre Magazinsendungen eine hochwertigere Optik leiste, als das zum Beispiel bei Nachrichtensendungen wie der Tagesschau der Fall sei. Auch gäbe es in den Nachrichtenmagazinen deutlich mehr Zeit, um Hintergründe zu recherchieren, Beiträge zu konzipieren und zu schneiden. Der Zuschauer nehme das gut an, die Redaktion erhalte auch regelmäßig viele Reaktionen, und nach jeder Sendung gäbe es zudem eine professionelle externe Sendungskritik, die Verbesserungsvorschläge mache.

Dass man sich für mich als einfaches (ehemaliges) Parteimitglied von der Basis ohne Amt, Funktion und Ambitionen auf eine politische Karriere interessierte, erstaunte und erfreute mich natürlich. Frau Gill erläuterte mir, dass man im Kontraste-Beitrag zunächst über die Werteunion als Scharnier zur rechtsnationalen AfD berichten wolle und mich am Ende des Beitrags als ehemaliges „einfaches Mitglied“ zu Wort kommen lassen wolle, das sich (auch) deshalb von der CDU abgewendet habe. Das fand ich passend, weshalb ich dann über etwa zwei Stunden immer wieder erläuterte, warum ich nach 19 Jahren aus der CDU ausgetreten war: Das Statement der Parteivorsitzenden zur ihrer Ansicht nach notwendigen Regulierung der Meinungsfreiheit im Internet war nur der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hatte. Es ist tatsächlich so, dass mich der spürbare Rechtsruck in der CDU insgesamt besorgt , der sich auch durch die so genannte Werteunion ausdrückt.

Einige Statements musste ich ungefähr zehn Mal wiederholen, weil sie entweder zu lang waren, zu wenig „Emotionen rüberbrachten“ („Regen Sie sich doch mal richtig auf!“) oder weil ich entgegen der Regieanweisung direkt in die Kamera geschaut hatte. Dennoch attestierte mir Frau Gill später, dass viel brauchbares Material entstanden sei und ich mich für jemanden, der noch niemals ein Fernsehinterview geführt hatte, ganz ordentlich geschlagen hätte.

Mit dem Interview war die Sache allerdings noch nicht erledigt. Anschließend wurden noch so genannte „Schnittbilder“ gedreht, die in einem Beitrag verwendet werden können, während der Sprecher dem Zuschauer etwas erklärt. Ich tippte also wild in die Tasten meines Notebooks, öffnete diverse Tweets, schaute mit Frau Gill Bilder an, die Ausschnitte aus meiner früheren kommunalpolitischen Basisarbeit zeigen, und ging mit ihr mein eigens mitgebrachtes Austrittsschreiben durch, das ich vor ein paar Tagen an das Konrad-Adenauer-Haus gesendet hatte.

Nach einer weiteren halben Stunde waren auch diese Bilder im Kasten. Nun sollte es aber noch zu einem CDU-Plakat gehen, um dem Zuschauer auch eine optische Verbindung zur Partei zeigen zu können. Das Problem dabei: Einige Tage nach der Wahl waren die meisten Plakate der Parteien schon abgehängt worden, weil Bußgelder drohen, wenn man sie nach einer Wahl zu lange hängen lässt. Die CDU Hannover macht diesbezüglich eine hervorragende Arbeit, und wir mussten bis ans südliche Ende des Maschsees fahren, um noch einige Plakate zu entdecken. Vor denen lief ich dann noch etwas hin und her, um nochmals „mit langer Brennweite“ gefilmt zu werden.

Während der Fahrt durch die Stadt erfuhr ich von Frau Gill dann noch diverse Details zu den Produktionsprozessen in der Redaktion und Erlebnisse, die Reporterinnen und Reporter dieser Tage machen, wenn sie über Rechtsextreme berichten. Wer sich für die erschreckenden Details interessiert, mag auf dem Blog Medien.Macht.Verantwortung nachlesen. Bemerkenswert fand ich auch die Aussage, dass Menschen in Westdeutschland, die nicht interviewt werden wollten, dies einfach so sagten, während eine Absage in Ostdeutschland oft mit Beleidigungen und Beschimpfungen sowie Sprüchen über die „Lügenpresse“ und den „Staatsfunk“ verbunden seien.

Insgesamt sind an diesem Nachmittag mehr als 30 Gigabyte Rohmaterial entstanden, die noch am gleichen Abend geschnitten und in den Beitrag eingefügt werden sollten. An Tagen kurz vor der Sendung werde von der Redaktion über die Grenzen des Arbeitszeitgesetzes hinaus gearbeitet, dafür sei es dann aber in anderen Wochen etwas entspannter.

Zwei Tage später, am gestrigen Donnerstag, sollte der Beitrag dann gesendet werden. Etwa drei Stunden vor der Sendung erhielt ich einen Anruf, dass man es sehr bedauere, dass man mich aus dem Beitrag herausnehmen müsse. Kurzfristig hätte man noch Statements der CDU-Politiker Ruprecht Polenz und Elmar Brok erhalten und lange innerhalb der Redaktion diskutiert, was den Beitrag besser abschließen würde. Dabei sei dann mein Interview entfallen.

Ich bin darüber nicht besonders unglücklich. Die Entscheidung der Redaktion zeigt zwar, dass man dem ARD-Zuschauer immer noch lieber den etablierten Politikbetrieb zeigt als Akteure, die in den sozialen Netzwerken mitreden. Persönlich habe ich allerdings nur ein paar Stunden meiner Zeit geopfert und dabei viel über die Arbeit von Redaktionen und die technische Fernsehproduktion gelernt. Ein bisschen davon möchte ich mit diesem längeren Blogbeitrag teilen, der natürlich nicht enden soll, ohne auf den fertigen Beitrag der Kontraste-Redaktion zu verlinken.

Twitter kippt nach rechts

Pünktlich zum Jahrestag der Bücherverbrennung am 10. Mai hat es der Kurznachrichtendienst Twitter geschafft, zahlreiche Accounts von Juristen, Politikern, Publizisten und anderen Nutzern zu sperren – darunter auch meinen. Was ist passiert? Das soziale Netzwerk hat neue Regeln eingeführt, um zu verhindern, dass Falschinformationen zur Europawahl am 26. Mai 2019 verbreitet werden. Dieses an sich löbliche Ansinnen hat Twitter aber entweder extrem schlecht programmiert, so dass auch uralte Tweets sowie leicht erkennbare Ironie direkt zu einer Sperre des Accounts führen. Oder, und das erscheint angesichts der Nicht-Reaktion des Netzwerks mittlerweile nicht unwahrscheinlich, die Twitter-Eigentümer verfolgen mittlerweile eine Agenda am rechten politischen Rand.

Anders als manch feixende Rechtsextreme behaupten, hat diese Sperre allerdings nichts mit dem Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG) zu tun, das dafür sorgen soll, volksverhetzende und sonst strafbare Inhalte in sozialen Netzwerken wirksam zu unterbinden. Die Entscheidungen Twitters, auch völlig rechtskonforme Informationen zu entfernen, kann es jedenfalls nicht auf das NetzDG stützen. Denn rechtlich nicht zu beanstandende Äußerungen werden vom Anwendungsbereich des NetzDG überhaupt nicht erfasst, was man leicht am Wortlaut des § 3 des kurzen Gesetzes erkennen kann. Außerdem beschränkt Twitter sich nicht auf eine Löschung der beanstandeten Tweets, sondern macht den Accountinhaber durch eine Sperre gleich völlig mundtot. Auch mit Zensur hat die Sache nichts zu tun, denn als ich das letzte Mal nachgeschaut habe, war Twitter noch kein staatliche Behörde.

Wahrscheinlich handelt Twitter jedoch rechtswidrig, weil es durch sein Verhalten das Vertragsverhältnis mit den betroffenen Nutzern verletzt. Es ist nämlich ein weit verbreiteter Irrtum, dass kostenlose Dienste wie Twitter gegenüber ihren Benutzern keine vertraglichen Pflichten hätten. Solange Twitter eine Dienstleistung verspricht und mit den empfangenen Daten Geld (z.B. durch die Ausspielung von Werbung) verdient, darf es nicht einseitig Löschungen erzwingen und Zugänge sperren – jedenfalls sofern sich ein betroffener Benutzer zuvor nicht selbst rechts- bzw. vertragswidrig verhalten hat. Irgendwelche Allgemeinen Geschäftsbedingungen, die die neuen Regelungen zur Wahlinformation enthalten und die Twitter nun auch auf alte Tweets anwendet, hat es jedenfalls bei Bestandsnutzern nicht wirksam in das Vertragsverhältnis einbezogen.

Der Grund für meine ganz persönliche Sperre liegt in einem Tweet aus dem Januar  2019, also viele Wochen vor den neuen Twitter-Regeln für Wahlinformationen. Darin hatte ich den alten Witz gebracht, dass AfD-Wähler wohl vergessen hätten, ihren Wahlzettel zu unterschreiben. Dieser Spruch ist so banal, so abgedroschen, so erkennbar unrichtig und so offensichtlich vom Recht der freien Meinungsäußerung umfasst, dass ich mich fast schäme, ausgerechnet deswegen gesperrt worden zu sein. Dass ich mich in sehr guter Gesellschaft befinde, zeigen allerdings die Twitter-Sperren des Rechtsanwalts Kim Manuel Künstner, der PARTEI Niedersachsen, des Sprechers der Berliner SPD-Fraktion Sven Kohlmeier, der Jüdischen Allgemeinen etc. Die Liste ließe sich noch deutlich verlängern.

Twitter hat mir angeboten, den Tweet entweder zu löschen oder gegen die Sperrung Einspruch einzulegen. Ich hänge wahrlich nicht an dem Tweet mit dem alten Witz. Allerdings widerspricht es meinem Charakter, von dem Kakao zu trinken, durch den mich das Unternehmen Twitter gerade zieht. Dieses offensichtlich rechtswidrige Handeln werde ich nicht unterstützen, indem ich einen harmlosen Tweet lösche, nur weil er einigen Gestalten vom rechten Rand nicht gefällt. Deshalb habe ich gleich am Freitag mit einer recht launigen und kurzen Begründung Einspruch gegen die Löschung erhoben. Dieser wurde dann allerdings nicht beschieden. Stattdessen bot mir das Netzwerk am Samstag gleich noch einmal an, Einspruch zu erheben. Das habe ich dann noch einmal getan und in der Begründungszeile gefragt, ob das Unternehmen gesteigerten Wert darauf lege, mit mir eine gerichtliche Auseinandersetzung über die Rechtswidrigkeit des beanstandeten Tweets zu führen. Darauf folgte bis jetzt, Montagabend, keine Reaktion.

Wahrscheinlich sind Twitters Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die mit der Bearbeitung solcher Einsprüche befasst sind, zeitlich und intellektuell deutlich überfordert. Gern werden Entscheidungen über gesperrte Inhalte, sofern sie überhaupt von Menschen und nicht von Algorithmen getroffen werden, in ferne Länder mit anderen Sprachen und billigen Löhnen ausgelagert. Dass Twitter sich rechtlich auf dünnem Eis befindet, zeigt allerdings die meines Erachtens zutreffende Einschätzung der Kanzlei Loeffel Abrar, die ein prozessuales Vorgehen gegen Twitter empfiehlt. Nicht umsonst wird im Netz bereits danach gefragt, ob man nicht das kostengünstige Instrument der verbraucherrechtlichen Musterfeststellungsklage nutzen sollte, um Twitter das rechtswidrige Sperren auszutreiben.

Dass das neue Instrument der Meldung von Falschinformationen zu Wahlen von Rechtsextremen systematisch genutzt wird, um politische Gegner mundtot zu machen, verwundert nicht. Wenn der rechte Rand versucht, selbst so unbedeutende Twitterer wie mich mundtot zu machen, die ohne Prominenz und ohne jegliches politische Mandat nur wenigen tausend Followern ihre oft pointierte, aber zumeist unmaßgebliche Meinung sagen, zeigt das den Fanatismus und die undemokratische Diskurskultur der Rechtsextremen. Seit Jahren versucht der rechte Rand, finanziert aus dubiosen Quellen, jede Äußerung gegen organisierte Menschenfeindlichkeit, Rassismus und Ausländerhass sowie die blaue Nachfolgepartei der NSDAP mundtot zu machen. Ich habe zwar derzeit keinen Zugang zu meinem Twitteraccount, kann aber trotzdem lesen, dass rechtsextreme Troll-Accounts und Antisemiten unter meinen letzten Tweets mit allerlei Häme und falschen Behauptungen meine Sperrung abfeiern. Diese Leute haben offensichtlich nichts anderes zu tun, als den lieben langen Tag Tweets zu melden, die sich kritisch mit den dunklen Machenschaften der Rechtsextremen und ihrer politischen Vertreter auseinandersetzen. Bisher hatte das wenig Erfolg – nun haben sie ein Instrument gefunden, das ihnen Twitter offenbar willig in die Hand gedrückt hat.

Das Ziel der Rechtsextremen besteht in der Hegemonie über den öffentlichen Diskurs. Die AfD und ihre Gesinnungsgenossen haben es in den letzten Jahren vermocht, die Grenzen des Sagbaren immer weiter nach rechts zu verschieben, um die Dümmsten und Bösartigsten dieses Landes dazu zu bewegen, sie ins Parlament zu wählen – bekanntermaßen waren sie damit erfolgreich. Juden- und Islamhass werden in Deutschland mittlerweile wieder offen ausgelebt, einige Teile der (ost-)deutschen Provinz gelten sogar als „national befreite Zonen“. Das nächste Ziel der Rechten besteht darin, sichtbare Exponenten des demokratischen Rechtsstaats und der Zivilgesellschaft zu beschädigen – von der „Merkelnutte“ über die „Klimagöre“ bis hin zum „linksgrünversifften Rechtsverdreher“ (alles Begriffe, die für Twitter übrigens kein Grund zum Sperren sind). Da passt ein Jurist, der (noch) CDU-Mitglied ist und sich stets für die Achtung von Grund- und Menschenrechten ausspricht, ideal ins Feindbild der Rechtsextremen. Warum sollte man auch zwischen Linken, Grünen, Sozial-, Frei- und Christdemokraten differenzieren, wenn sie doch alle Teil des verhassten demokratischen Nachkriegsdeutschlands sind? Wer das nationalsozialistische Unrecht zum „Fliegenschiss“ umlügt, weiß genau, in wessen Fußstapfen er tritt.

Das massenweise Melden führt dazu, dass sich lustigerweise gleich mehrere Twitter-Nutzer damit brüsten, mich zum Schweigen gebracht zu haben. Antisemiten und Muslimhasser (die natürlich „nur gegen Beschneidungen“ oder „nur gegen das Kopftuch“ sind, wer’s glaubt wird selig) geben sich die Klinke in die Hand. Der sich von mir beleidigt fühlende Christoph Lemmer aus Bad Aibling, an den ich mich nicht einmal erinnere und dessen rechtlich unbeholfenes Impressum mich erheitert (Unterlassungsverfügung vor dem Landgericht Hamburg, anyone?), berühmt sich zwar heftig, mich zur Strecke gebracht zu haben. Wahrscheinlicher ist allerdings, dass die Aussage des österreichischen Politikberaters  Robert Willacker stimmt, dass er mich wegen unzutreffender Aussagen zur Wahl gemeldet und Twitter mich auf seine Veranlassung hin gesperrt hat. Laut seinem Profil ist Willacker in der rechtsextremen Verbindungsszene aktiv und in der österreichischen Politik gut vernetzt. Er arbeitet für die Wiener Politikberatungsgesellschaft Policon. Seit ihrer Regierungsbeteiligung hat die FPÖ wieder vermehrt Zugang zu den Finanzmitteln der Republik Österreich und ist daher in der Lage, solche Berater zu finanzieren, die auch in den deutschsprachigen Nachbarländern massiv die Politik beeinflussen (sollen).

Profilbild des rechtsextremen Twitter-Nutzers Robert Willacker. Will er besonders lässig wirken? Kann er sich alleine nicht die Schleife binden? Man weiß es nicht und will es eigentlich auch nicht wissen.

Der rechte Sumpf ist ein gesamteuropäisches Problem, und Twitter nur ein kleines Mosaiksteinchen. Die jüngsten Sperrungen werden auf Antrag der FDP-Fraktion am Mittwoch im Digitalausschuss des Deutschen Bundestages in nichtöffentlicher Sitzung thematisiert werden. Ob das Netzwerk darauf reagieren wird, ist noch ungewiss. Bis dahin haben wir Nutzer eine Option: uns einen anderen Ort zum Diskutieren zu suchen. Es gibt genug Alternativen zu Twitter. Ich werde mein Profil zwar noch nicht löschen, sondern erst noch die Reaktion auf meinen Einspruchs abwarten und dann die möglichen weiteren Schritte überdenken. Für alle Fälle habe ich mir aber schon ein Profil bei Mastodon eingerichtet. Vielleicht sehen wir uns dort, oder gerne auch hier auf dem Blog!

Der demokratische Rechtsstaat und die Legitimität der Gewalt

Ein Tweet an einen Juristenkollegen hat mir vor einigen Tagen einen veritablen Shitstorm eingebracht. Meine kurze Bemerkung zu Art. 20 Abs. 4 des Grundgesetzes ist von vielen (wider besseres Wissen) als Aufruf zur Gewalt missverstanden worden. Hunderte von Kommentatoren haben sich sehr unsachlich, ohne vertiefte Kenntnis der meinem Tweet zugrunde liegenden Rechtsnormen sowie beleidigend geäußert. Es ist kaum möglich, in sehr kurzen Tweets gebührend auf die geäußerte Kritik einzugehen. Daher antworte ich nunmehr mittels einer Serie von Blogbeiträgen auf die Debatte, beginnend mit ganz grundsätzlichen Gedanken zum Verhältnis von Gewalt und Recht. Der darauf folgende Beitrag wird sich detailliert mit Art. 20 Abs. 4 GG beschäftigen. Danach wird es um die Vorteile gehen, die Rechtsextreme aus mangelnden Kenntnissen ihrer Anhänger sowie Verdrehungen und Falschdarstellungen in den sozialen Medien ziehen, sowie die Mittel bis hin zu Mordaufrufen, zu denen diese Menschen greifen.

Unsere Kultur ist voller Gewalt. Schaltet man an einem beliebigen Abend den Fernseher oder einen Streamingdienst an, schaut in die Regale der Buchhandlungen oder surft durch das Internet – überall begegnen uns Verletzungen, Folterungen und Morde, die uns unterhalten, die uns innewohnende voyeuristische Neugier befriedigen und uns im besten Fall zu einem besseren Menschen erziehen sollen. In der Realität wird Gewalt häufig als Mittel zum Zweck eingesetzt, um ein Ziel zu erreichen. Von Gewalttaten im In- und Ausland hört man täglich in den Nachrichten.

Trotz oder wegen ihrer Omnipräsenz wird Gewalt häufig ebenso pauschal wie naiv verurteilt. Der Satz „Gewalt ist immer falsch“ findet sich tausendfach und zu allen möglichen Themen in den sozialen Netzwerken, und er erntet oft massenhafte Zustimmung. Einerseits ist dies erfreulich, weil es ein Beleg dafür ist, dass Menschen zumindest im öffentlichen Diskurs ein Bewusstsein dafür haben, dass Gewaltanwendung fast immer mit persönlichen Verletzungen, (sozialen) Kosten und gegebenenfalls auch der Mobilisierung von Gegengewalt einhergeht. Aus der Rechtsgeschichte wissen wir, dass der Prozess der Zivilisierung als Abkehr von der privaten Ausübung von Gewalttaten viele Jahrhunderte gedauert hat. Die Rechtssoziologie lehrt uns, dass er bis heute nicht abgeschlossen ist. Andererseits verdrängen wir oft, wenn wir die Gewaltfreiheit postulieren, dass die Zurückdrängung der privaten Ausübung von Gewalt zum Zwecke der Interessendurchsetzung nicht zum Verschwinden der Gewalt als solcher, sondern lediglich zu ihrer Transformation in regelhafte, demokratisch und rechtsstaatlich legitimierte Verfahren durch staatliche Institutionen geführt hat. Nicht umsonst finden wir das Wort Gewalt in Begriffen wie Staatsgewalt oder Verwaltung wieder.

Was aber bedeutet Gewalt überhaupt? Das deutsche Wort Gewalt geht auf  den indogermanischen Wortstamm val zurück. Im Althochdeutschen bedeutete giwaltan bzw. waldan etwas zu beherrschen sowie Stärke und Kraft bzw. Macht zu haben. Anders als etwa im Lateinischen und den mit ihm verwandten romanischen Sprachen wird im Deutschen nicht streng zwischen der violentia als Gewaltaktion, der fortitudo als physikalischer Kraft und der potestas als staatlicher Gewalt unterschieden. Trotz seiner negativen Konnotierung in der Alltagssprache sagt der Begriff auch nichts darüber aus, ob eine Gewaltanwendung im Einzelfall legal oder illegal, legitim oder illegitim ist.

Wenn Juristen von Gewalt sprechen, meinen sie die Anwendung eines Zwangsmittels zur Einwirkung auf einen physischen Zustand oder auf die Willensfreiheit eines anderen Menschen. Diese Unterscheidung von vis absoluta und vis compulsiva ist im Strafrecht evident, gilt aber gleichermaßen für alle anderen Rechtsgebiete und auch für die Handlungen der Staatsgewalt. Beispiele für legale und legitime Gewaltanwendung existieren zuhauf. Staatliche Akteure wie die Bundeswehr, die Polizei und die Geheimdienste, aber auch Gerichte, Finanz- und Ordnungsbehörden, ja selbst Schulen üben täglich Gewalt gegenüber den Rechtsunterworfenen aus. Der Unterschied zwischen einem Rechtsstaat und einem Unrechtsstaat besteht darin, dass der Betroffene staatlicher Gewalt in einem Rechtsstaat die Möglichkeit hat, ihre Legalität in einem rechtsförmigen Verfahren durch unabhängige Gerichte überprüfen und gegebenenfalls korrigieren zu lassen.

Auch Private können nach unserer Rechtsordnung in manchen Fällen völlig legal Gewalt gegen andere ausüben. Das betrifft zum Beispiel die Notwehr bei gegenwärtigen rechtswidrigen Angriffen. Zu den (hier nicht abschließend aufgezählten) notwehrfähigen Rechtsgütern zählt neben der Menschenwürde, dem Leben, der Gesundheit, der körperlichen Freiheit und dem Eigentum auch die persönliche Ehre. In Fällen von Angriffen auf diese Rechtsgüter muss der Angegriffene weder fliehen („Das Recht muss dem Unrecht nicht weichen“) noch auf strenge Verhältnismäßigkeit der Mittel achten. Das ist der Inhalt des alten Rechtssprichworts „Not kennt kein Gebot.“ Einem Angegriffenen ist nämlich nicht zuzumuten, auf ein unsicheres Notwehrmittel verwiesen zu werden. Lediglich bei zwei gleichermaßen vorhandenen erfolgversprechenden Mitteln ist das jeweils mildere zu wählen. Weitere Beispiele sind die Nothilfe von Dritten, die einem Angegriffenen zu Hilfe kommen, sowie der rechtfertigende Notstand.

Es ist also zusammenfassend zu konstatieren, dass Gewalt in demokratischen Rechtsstaaten nicht nur erlaubt, sondern sogar erwünscht ist, wenn sie dem Schutz von Rechtsgütern, der Funktion und dem Erhalt des Staates und seiner Einrichtungen oder dem Allgemeinwohl dient. Um die Grundrechte der von Gewalt Betroffenen zu wahren, gibt es die Möglichkeit, Gewaltakte von Privaten ebenso wie Handlungen der Staatsgewalt durch unabhängige Gerichte überprüfen zu lassen. Die Rede, dass „Gewalt immer falsch“ sei, ist daher als Bekenntnis zu zivilisiertem und rechtskonformem Verhalten in einer friedliebenden Gesellschaft zu verstehen, widerspricht aber dem rechtstatsächlichen Befund. Dass das Postulat der Gewaltlosigkeit zudem höchst problematisch ist, wenn es gegenüber Menschen gelten soll, die selbst illegale bzw. illegitime Gewalt gegen Dritte ausüben, hat nicht zuletzt der Philosoph Karl Popper in seinem Toleranzparadoxon beschrieben.

Das Kreuz mit dem Islam

Hans Michael Heinig ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Kirchenrecht und Staatskirchenrecht an der Universität Göttingen sowie Leiter des Kirchenrechtlichen Instituts der Evangelischen Kirche in Deutschland. Er hat soeben den lesenswerten Band Säkularer Staat – viele Religionen. Religionspolitische Herausforderungen der Gegenwart vorgelegt.

Heinig versammelt in diesem Buch 15 kurze Aufsätze zu religionspolitischen und religionsrechtlichen Themen, die teilweise zuvor schon in der Zeit, der F.A.Z. oder in der evangelischen Monatszeitschrift Zeitzeichen erschienen sind und die er für diesen Band überarbeitet und erweitert hat. Der Autor wendet sich an eine allgemeine Leserschaft und erklärt kurz, aber stets präzise die Grundzüge des geltenden Verfassungsrechts. Er referiert dabei auch die unterschiedlichen Ansichten zu religionsverfassungsrechtlichen Streitfragen. Erfreulich ist, dass ihn die Perspektive des Staatsrechtslehrers nicht daran hindert, zu vielen der in der Öffentlichkeit kontrovers diskutierten Fragen eine klare und stets reflektierte Position zu beziehen. Heinig stellt sich damit in die löbliche Tradition akademischer Lehrer des angloamerikanischen Sprachraums, die ihr Fachgebiet nicht nur durch wissenschaftliche Fachpublikationen bereichern, sondern es regelmäßig in verständlicher Sprache auch einem allgemeinen Publikum nahebringen.

Lohnende Lektüre: Hans Michael Heinigs Buch zu religionsverfassungsrechtlichen Streitfragen

Schon im ersten Kapitel, das die weltanschauliche Neutralität des Staates zum Thema hat, geht Heinig in medias res: Die religionspolitischen Festlegungen des Grundgesetzes und der weitergeltenden Normen der Weimarer Reichsverfassung erklärt er aus den historischen Erfahrungen seit den Religionskriegen der frühen Neuzeit heraus über den Kulturkampf, den Bruch mit der Staatskirche durch die Revolution im Jahre 1919 bis hin zum Kirchenkampf. Er verortet sie zwischen den Regelungen der amerikanischen Bundesverfassung, die die Religionsgemeinschaften vor dem Zugriff des Staates schützt, und dem französischen Modell des Laizismus, das die spezifischen Erfahrungen mit der katholischen Kirche als Hort der Restauration gegen die in der Revolution von 1789 erkämpften Grund- und Menschenrechte zur Grundlage hat. Auch die Einflüsse des philosophischen Liberalismus, etwa durch John Rawls und Jürgen Habermas, zeigt Heinig an verschiedenen Stellen seines Werkes auf.

Kritisch geht Heinig mit überkommenen Paradigmen des Staatskirchenrechts um, etwa dem vielzitierten Böckenförde-Theorem, demzufolge der freiheitliche, säkulare Staat von Voraussetzungen lebe, die er selbst nicht garantieren könne. Heinig weist zutreffend darauf hin, dass Ernst-Wolfgang Böckenförde diesen in den 1960er Jahren formulierten Satz unter dem Eindruck einer nicht mehr gegebenen religiösen Homogenität und einem nicht immer zwingend positiven Verhältnis der Religionen zum freiheitlichen Staat in späteren Schriften selbst relativiert habe. An vielen Stellen des Buches wird deutlich, dass Heinig stärker auf die Spielregeln der pluralistischen Demokratie mit ihren friedensstiftenden Diskurs- und Verhandlungsverfahren vertraut als auf die unbedingte Zustimmung der Religionsgemeinschaften und ihrer Gläubigen zum säkularen Verfassungsstaat. Er wünscht sich allerdings, dass wie im niederländischen Modell eines „Rats der Religionen“ auch in Deutschland neben den beiden christlichen Großkirchen stärker auf die Perspektiven jüdischer, islamischer, christlich-orthodoxer und freikirchlicher Religionsvertreter eingegangen werde.

Dabei würdigt Heinig die Rolle der Religionen in der modernen deutschen Gesellschaft durchaus kritisch: Tendenzen zu Gewalt und Unfreiheit erkennt und benennt er – nicht nur im Islam, sondern auch in anderen religiösen Gemeinschaften. Anders als die AfD, mit deren religionspolitischem Programm sich Heinig in einem eigenen Kapitel beschäftigt („Auf aberwitzig grobe Verallgemeinerungen folgen unterkomplexe Differenzierungen“, S. 61; „Rechtskulturelle Standards, die der Sicherung des religiös-weltanschaulichen Friedens dienen, werden [von der AfD] systematisch unterlaufen“, S. 62), sieht Heinig genug geeignete Werkzeuge des geltenden Rechts, um mit religiösen Extremisten fertig zu werden. Der Umgang mit dem radikalen Islam ergibt sich laut Heinig aus dem Grundgesetz, das es zum Beispiel erlaube, fundamentalistischen Gruppierungen die Nutzung von Gebetsräumen an Universitäten zu untersagen. Ein Islamgesetz nach österreichischem Vorbild verwirft er dagegen und erläutert nachvollziehbar, warum die österreichischen Regelungen in Deutschland grundgesetzwidrig wären.

Erhellend ist, dass Heinig nicht nur mehrfach das Problem der inneren Verfasstheit islamischer Gemeinden und „Konfessionen“ hervorhebt, zum Beispiel angesichts der Frage der richtigen Ansprechpartner für den Abschluss von Staatsverträgen, der Organisation des Religionsunterrichtes oder der Einrichtung islamisch-theologischer Studiengänge. Gleichzeitig liegt nämlich ein weiterer Schwerpunkt der Darstellung auf der Entwicklung des Staatsverständnisses der evangelischen Kirchen seit der Weimarer Republik. Hier lernt der Leser, dass auch protestantische Theologen mit den neuen, demokratischen Verfassungen der Jahre 1919 und 1949 durchaus und über Jahrzehnte Schwierigkeiten hatten: Die Akzeptanz des freiheitlich-demokratischen Staates ist auch vielen Christen, selbst akademischen Lehrern der protestantischen Theologie, zunächst nicht leicht gefallen.

An dieser Stelle hätte sich der Rezensent eines oder besser noch mehrere Kapitel über die Perspektive der katholischen Kirche auf das Religionsverfassungsrecht gewünscht, die von Heinig nur in einem kurzen Nebensatz als vergleichsweise unproblematisch bewertet wird. Gerade im Hinblick auf die verfassungsrechtliche Gleichberechtigung von Mann und Frau und deren Drittwirkung auf die Religionsgemeinschaften wären hier weitergehende Erläuterungen erhellend gewesen.

Lesenswert sind weiterhin die Bewertungen Heinigs zum arbeitsrechtlichen Dritten Weg, wenngleich die Schlussfolgerung, dass wenn dieser entfiele, die Ökonomisierung von Caritas und Diakonie sich weiter verschärfen würde, dem Rezensenten nicht zwingend zu sein scheint. Das als Polemik überschriebene Kapitel zu den Evangelischen Kirchentagen enthält scharfsinnige, aber auch schmerzhafte Beobachtungen zum Stand der Laienrepräsentation innerhalb der evangelischen Kirche – wer möchte sich schon gerne in einer Reihe „protestantischer Wutbürger“ sehen, organisiert von Vertretern „fortdauernde[r] Clanstrukturen“ (gemeint sind die familiären Kontinuitäten der Personen, die die Organisation der Kirchentage verantworten) ? Immerhin gesteht der Autor dem Evangelischen Kirchentag eine Entwicklungsmöglichkeit zu einer „gesellschaftliche[n] und theologische[n] Lernwerkstatt“ zu.

Auch für die Zukunft sieht Heinig weitere religionspolitische Streitfragen voraus: Wie werden wir es mit akademisch gebildeten Muslimas halten, die als Zeichen ihrer kulturellen Identität auch im Staatsdienst als Lehrerinnen oder Richterinnen ein Kopftuch tragen wollen? Wird es in Zukunft islamische Feiertage geben, sollten konfessionelle Feiertage künftig im Rahmen eines Rotationssystems jährlich wechseln, oder wäre es besser, als Teil der deutschen Identitätspolitik das Ende des 2. Weltkriegs, den Mauerfall oder den Tag des Grundgesetzes zu feiern? Und was passiert, falls die AfD jemals in Regierungsverantwortung kommen, sich dann aber nicht an das Religionsverfassungsrecht halten sollte?

All diese Fragen diskutiert Heinig an, eröffnet Perspektiven und lädt zum eigenen Nachdenken ein. Es bleibt zu hoffen, dass dem mit knapp 140 Seiten relativ schmalen Band noch viele weitere folgen werden.

Hans Michael Heinig: Säkularer Staat – viele Religionen. Religionspolitische Herausforderungen der Gegenwart, erschienen im Kreuz-Verlag, Stuttgart, 14 Euro.

Facebook ist nicht zu retten

Schon im ersten Beitrag dieses Blogs habe ich von schweren Mängeln des sozialen Netzwerks Facebook geschrieben, die weniger technischer Natur sind, als sich vielmehr in mangelndem Community-Management und geistiger Verwahrlosung eines Teils der Nutzerschaft zeigen. Offenbar ist dieses Problem noch wesentlich schwerwiegender, als ich zunächst vermutet hatte.

Vor zwei Wochen hat mich Facebook grundlos für eine Woche gesperrt. Grundlos heißt in diesem Fall inhaltlich grundlos. Die Ursache der Sperrung liegt nämlich darin, dass mich die Anhänger der blaubraunen Partei massenhaft gemeldet haben, weil ihnen eine meiner Twitternachrichten nicht gefiel. Während Twitter ordnungsgemäß prüft und bisher keinen meiner Tweets beanstandet hat, ist Facebook bekanntermaßen AfD-affiner, verdient mit Beratung und Werbung für diese Partei viel Geld und prüft deren Meldungen entweder überhaupt nicht oder nicht ordnungsgemäß.

Meine erste Reaktion bestand darin, die Löschung inhaltlich anzugreifen und mich über ein Formular bei Facebook zu beschweren. Natürlich erfolgte keine Reaktion. Facebook will keine Interaktion mit seinen Nutzern, denn sie sind keine Kunden, sondern das Produkt, mit dem Facebook Werbeanzeigen verkauft. Zuviel Unruhe stört das gute Geschäft, und das läuft in Diktaturen und autoritären Gesellschaften bekanntlich ebenso gut wie in liberalen Demokratien. Ich erstellte mir – entgegen der Allgemeinen Geschäftsbedingungen – auch ein Zweitprofil (Warum soll ich mich an die AGB halten, wenn Facebook sich nicht einmal an das deutsche Recht hält?), erstellte ein Titelbild mit dem Slogan „Facebook ist kaputt. Können wir es reparieren?“ und begann, wieder Kontakte zu knüpfen.

Doch das war möglicherweise voreilig. Ein Netzwerk, das sich ganz offenbar keinen Deut dafür interessiert, ob in seinen Kommentarspalten der braune Mob tobt und dessen Technik ermöglicht, dass sachgrundlose, rein politisch-bösartig motivierte Meldungen zum Sperren demokratischer Diskursteilnehmer missbraucht werden, ist es vielleicht gar nicht wert, dass man Mühe und Aufwand in seine Rettung setzt. Das bunte, internationale Akademikernetzwerk, das Facebook im Jahre 2006 noch war, ist jedenfalls zu einer blaubraunen Jauchegrube verkommen, die man hochtrabend vielleicht noch als Echokammer, aber kaum noch als politische Agora bezeichnen kann. Dies wird auch dadurch unterstrichen, dass massive Beleidigungen, Bedrohungen und üble Nachreden gegenüber Diskutanten und sogar deren Familien (die Sippenhaft lässt grüßen) von Facebook ebenfalls nur im Ausnahmefall verfolgt werden.

Ich habe daraus meine Konsequenz gezogen und werde Facebook nur noch mit meinen Blogbeiträgen und Twitter-Tweets füttern. Falls das zu Sperrungen führt, dann sei es so. Wer mit mir in Kontakt bleiben möchte, den lade ich herzlich ein, mir auf mein Twitterprofil zu folgen. Auf Twitter tobt zwar manchmal auch der blaubraune Mob, aber die dortige Moderation funktioniert wesentlich besser: Nazi-Beiträge werden relativ zuverlässig gesperrt, ich selbst habe auf Twitter trotz etlicher Sperrungsversuche der blaubraunen Brüder (die auch dort aktiv sind) bisher keine Probleme.

Alternativ bin ich auch über die Kommentare hier im Blog erreichbar. Rechnet aber nicht damit, mich noch regelmäßig auf Facebook oder über dessen Messenger zu erreichen. Denn lieber wechsele ich die Plattform, als mich dem gefährlichen rechtspopulistischen Wahnsinn von NPD, AfD und deren Anhängern zu unterwerfen.

Alexander Gauland
und der letzte Jude von Winnyzja

Wenige Wochen vor der Bundestagswahl im September 2017 äußerte sich Alexander Gauland, der alte und neue Bundessprecher der AfD, in einer Rede vor Parteianhängern wie folgt über die deutsche Vergangenheitsbewältigung:

„Wenn die Franzosen zu Recht stolz auf ihren Kaiser sind und die Briten auf Nelson und Churchill, haben wir das Recht, stolz zu sein auf die Leistungen deutscher Soldaten in zwei Weltkriegen.“

Diese Sicht auf die deutsche Geschichte erstaunt und dient natürlich der offenkundigen Bedienung rechtsextremer Wählerschichten. Historisch, politisch und gesellschaftlich ist sie unhaltbar, denn weder haben französische Kaiser, Admiral Nelson oder Premierminister Churchill völkerrechtswidrige Angriffskriege mit weltweit mehr als 50 Millionen Toten vom Zaun gebrochen, noch waren sie unterstützend daran beteiligt, mehr als 13 Millionen unschuldiger Zivilisten und Kriegsgefangene zu ermorden, davon etliche Millionen auf industrielle Art in den Konzentrationslagern Auschwitz und Majdanek. Diese „Leistungen“ hat allein die nationalsozialistische deutsche Regierung vollbracht – und mit ihr die deutschen Soldaten und der deutsche Verwaltungsapparat. Ganz zu schweigen von den zahlreichen Kriegsverbrechen, die die Wehrmacht, die SS, der SD, die Gestapo und andere in deutschen Diensten in fast ganz Europa und darüber hinaus begangen haben.

Als Reaktion auf dieses geschichtsvergessene, dummfreche und amoralische Zitat, das offenkundig nur dazu dient, den Rahmen des in diesem Lande Sagbaren wieder etwas nach rechtsaußen zu verschieben, ging das obige Bild in den sozialen Netzwerken viral. Da es mir als Antwort auf Gauland sehr passend erschien, habe auch ich es geteilt und dazu die folgenden zwei Sätze auf mein Facebook-Profil geschrieben:

„Das Bild zeigt einen deutschen Soldaten beim Erschießen eines Juden während eines Massenmords in der Ukraine. Was einen Herrn Gauland und seine braunen Spießgesellen daran stolz macht, kann wohl kein geistig normaler Mensch verstehen.“

Für dieses Posting habe ich viel Zuspruch quer durch fast alle politischen Lager erhalten. Es dauerte aber auch nicht lange, bis die ersten empörten Reaktionen von rechtsaußen eintrudelten. Mir wurde beispielsweise vorgeworfen, damit meine Vorfahren zu verraten. Eine andere Kommentatorin erklärte, diese Thematik müsse „auch für unsere Kinder […] endlich mal ein Ende“ haben: „Wie sollen deutsche Kinder Stolz auf das Heimatland erlernen, wenn ihnen so eine Scheisse [sic] präsentiert wird?“Mit dieser Kritik kann ich gut leben, denn right or wrong – my country habe ich noch niemals für eine akzeptable Sichtweise gehalten, und das schließt auch Vorfahren ein, die sich an verbrecherischen Angriffskriegen beteiligt haben. Ob „Stolz auf das Heimatland“ ein im 21. Jahrhundert noch wesentlicher Erziehungsgedanke sein sollte, sei auch einmal dahingestellt.

Ein anderer Kommentator ermahnte mich, „bitte niemals [zu] vergessen“, dass „unsere deutschen Soldaten [im] 2. Weltkrieg einen Eid auf menschenwürdiges Verhalten geschworen“ hätten. Das ist zwar blühender Unsinn, wie man beispielsweise hier nachlesen kann, aber offenbar glauben das manche Zeitgenossen wirklich.

Ein weiterer Diskutant entblödete sich nicht, darauf hinzuweisen, dass das Opfer auch einen Nichtjuden wie zum Beispiel einen Deutschen, Polen, Belgier oder Russen zeigen könne (als ob es keine jüdischen Deutschen, Polen, Belgier oder Russen gäbe) und es möglicherweise nicht wegen seines Glaubens, sondern aufgrund von Sabotage oder Spionage hingerichtet worden sei. Verwundert es da noch jemanden, dass sich dieser einfältige Mensch im nächsten Satz darüber beklagte, ich machte mit meinem Posting die AfD schlecht? Und wie soll man denn eine Partei gutreden, deren Anhänger Opfern des nationalsozialistischen Massenmordes eingebildete Straftaten unterstellen, nur um die Aussage ihres Vorsitzenden noch irgendwie zu rechtfertigen?

Schwerer wiegt da schon der Einwand, das von mir geteilte Bild zeige weder eine Szene in der Ukraine, noch seien deutsche Soldaten daran beteiligt. Ich hatte das nämlich nicht weiter recherchiert und mit n-tv der ersten Nachrichtenseite geglaubt, die dieses Bild ebenfalls verwendete. Wer sich übrigens dafür interessiert, wie damals viele Wehrmachtssoldaten über ihre Mordtaten dachten und worauf der feine Herr Gauland heute stolz sein möchte, der lese den dortigen Artikel gern einmal nach. Kurz zusammengefasst: das Welt-, Menschen- und Frauenbild dieser Naziverbrecher ist zum Kotzen, und die Wehrmachtssoldaten waren gut über die Vernichtung der Juden und „Untermenschen“ informiert.

Was also zeigt dieses Bild? Eine umgekehrte Bildsuche ergibt, dass es auf tausenden Internetseiten angezeigt wird. Teilweise wird als Quelle die Library of Congress angegeben, teilweise das Russische Staatsarchiv. Auch die englische Wikipedia verwendet das Bild in den Artikeln Einsatzgruppen trial, The Holocaust in Ukraine und The last Jew in Vinnitsa. Das Foto befindet sich auch auf der Internetseite des Gedenkstättenportals zu Orten der Erinnerung in Europa, die die Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas betreibt. Dort heißt es zu diesem Bild: „Vermutlich Winniza, um 1942, Erschießung eines ukrainischen Juden, Instytut Pamięci Narodowej“.

Winnyzja bzw. Winniza, in anderen Sprachen auch Ві́нниця, Винница, Winnica, Vinnitsa, Vinnytsia oder Vinica geschrieben, ist eine Großstadt in der Ukraine. Auf der Seite der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas heißt es zu dieser Stadt:

„Vor dem Zweiten Weltkrieg lebten in Winniza etwa 33.000 Juden. Die deutsche Wehrmacht besetzte die Stadt am 19.7.1941. Zuvor hatten ungefähr 17.000 Juden aus Winniza fliehen können. Zusammen mit der Wehrmacht rückten Verbände der Einsatzgruppe C ein. Wenig später errichteten die Besatzer ein Ghetto für die jüdische Bevölkerung von Winniza. Im September 1941 erfolgten die ersten Massenerschießungen in Winniza: Das Polizeibataillon 304 erschoss am 5. September 1941 2.200 Juden, die Polizeibataillone 45 und 314 erschossen mindestens 18.000 Juden am 19. und 20. September. Ende 1941 wurde das Gebiet für »judenfrei« erklärt. Doch unzählige jüdische Facharbeiter aus Winniza und Umgebung mussten bis 1942 Zwangsarbeit beim Bau des Führerhauptquartiers »Wehrwolf« [sic] in der Nähe der Stadt leisten. Von ihnen wurden viele von der SS erschossen. Diejenigen, die die Selektionen überlebten, wurden in Arbeitslager deportiert.“

Der ZDF-Haushistoriker Guido Knopp schreibt in seinem Buch „Der zweite Weltkrieg. Bilder, die wir nie vergessen“ auch über die Erschießung der Juden in Winnyzja:

„Es ist ein erschütterndes Dokument des Holocausts: Umgeben von einer Menge gaffender Zuschauer, darunter auch Angehörige der Wehrmacht, hält ein SS-Mann am Rand einer Grube, in der schon zahlreiche Leichen liegen, einem Mann die Pistole an den Kopf. »Der letzte Jude von Winniza« soll auf dem Originalfoto gestanden haben, das nach sowjetischen Angaben bei einem gefallenen deutschen Soldaten gefunden wurde. Ob dies tatsächlich der Fall war und ob diese Hinrichtung tatsächlich in Winniza stattfand, wissen wir nicht. Was wir aber wissen, dass sich solche Szenen hunderttausendfach im Rücken der Ostfront abspielten.
Die Täter waren Angehörige der »Einsatzgruppen«, die nichts anderes darstellten als mobile Todesschwadrone. Ihre Aufgabe war eindeutig: »die Bekämpfung aller reichs- und deutschfeindlichen Elemente im Feindesland rückwärts der fechtenden Truppe.« Konkret hieß dies: Die rückten im Windschatten der Wehrmacht vor, durchkämmten systematisch die besetzten Gebiete nach ideologischen und rassischen Feinden des Dritten Reichs und ermordeten diese.“

Das ist zwar eine zutreffende Bildbeschreibung, lässt die Frage nach der Herkunft des Bildes und der Identität der abgebildeten Personen jedoch noch immer offen. Eine Bildsuche in den Archiven der israelischen Holocaustgedenkstätte Yad Vashem ergibt, dass das Foto dort dem Massaker an den ukrainischen Juden in Winnyzja im Juli 1941 zugeordnet wird (Archiv-Nr. 2626/4). Das Foto zeige Mitglieder der Einsatzgruppe C, geleitet vom Juristen (!) und Kriegsverbrecher Emil Otto Rasch. Dieser war für rund 80.000 „Sonderbehandelte“ verantwortlich, ein Euphemismus für den Massenmord. Nach der Beschreibung des englischen Wikipedia-Artikels The last Jew in Vinnitsa ist die Datierung auf das Jahr 1941 jedoch unzutreffend, da das letzte Massaker an den Juden des Ortes im Jahr 1942 stattfand. Die handschriftliche Notiz auf der Rückseite des Fotos muss aber natürlich nicht stimmen – sie kann auch der zynische Kommentar eines Mitglieds der Einsatzgruppe sein.

Ein besonders penetranter Fake-news-Rufer auf meinem Facebook-Profil insistierte mehrfach, das Bild zeige keine Szene in der Ukraine, sondern die Erschießung eines Kommunisten in Lettland durch die Waffen-SS. Ich verstehe bis heute nicht, warum es besser sein soll, wenn Herr Gauland auf die Erschießung von Kommunisten durch Soldaten der Waffen-SS stolz ist, als wenn er sich über die Ermordung von Juden durch Wehrmachtssoldaten und Einsatzgruppen freut. Einen Beleg für die Behauptung, das Bild zeige eine Szene in Lettland, habe ich übrigens trotz einer mehrstündigen Recherche für diesen Beitrag nicht finden können.

Was bleibt zu dieser Angelegenheit noch zu sagen? Vielleicht nur, dass es die Rechtsextremisten nicht nur trotz, sondern gerade wegen solcher Aussagen mit 12,6 % in den Deutschen Bundestag geschafft haben. Die AfD gewinnt also Wähler mit geschichtsklitternden Parolen, die früher nur von der NPD vertreten wurden, und fischt bewusst im Trüben. Wer solche Aussagen wie Alexander Gauland tätigt, grenzt sich mitnichten glaubhaft von rechtsextremen Verfassungsfeinden und neuen Nazis ab, sondern stellt sich bewusst an deren Seite. Die oben dargestellten Kommentare der AfD-Anhängerschaft zeigen zudem, welche irrigen Vorstellungen zumindest bei Teilen der Wähler über die schlimmste Zeit der deutschen Geschichte kursieren und dass sie teilweise heroisiert, teilweise bewusst verdrängt und teilweise schlicht ignoriert wird. Das sollten Demokraten jeglicher Couleur diesen Leuten nicht durchgehen lassen. Der politische Kampf gegen die AfD hat gerade erst begonnen.

Facebook ist kaputt, oder:
Warum ich wieder blogge

Als ich mich im Herbst 2006 bei Facebook angemeldet habe, wurde in Deutschland gerade ein Netzwerk namens Studi-VZ populär. Dessen amerikanisches Vorbild Facebook war noch klein, fein und komplett in englischer Sprache gehalten. Damals saß ich in der kleinen Bibliothek des International Student House in der Nähe des Washingtoner Dupont Circle, legte ein Profil an und vernetzte mich mit meinen Freunden aus den USA, Südkorea, Japan und Taiwan. Mit ihnen lebte, lernte und feierte ich zusammen. Gesprochen haben wir über akademische Themen, den aktuellen und zukünftigen Berufsweg, die Familie und natürlich über dies und das. Deutsche Freunde nutzen Facebook damals so gut wie überhaupt nicht.

Elf Jahre später bietet Facebook ein komplett anderes Bild. Das Netzwerk ist seit Oktober 2010 auch in Deutschland aktiv und hat mittlerweile zwei Milliarden mindestens einmal im Monat aktive Nutzer, davon 31 Millionen in Deutschland. Das einstige Akademiker-Netzwerk ist für den Warenabsatz, zur Jobsuche, als Newsportal und im politischen Meinungskampf mittlerweile für viele unverzichtbar geworden.

Aber diese Relevanz hat auch Schattenseiten. Zumindest in seinem deutschsprachigen öffentlichen Teil ist Facebook vielerorts zu einer Kloake des blanken Hasses und des offenen Rassismus verkommen. Wenn man sein Profil komplett privat hält und sich nur mit seinen Freunden und Bekannten austauscht, erreicht man eventuell noch einen gewissen Nutzwert des Netzwerks. In den öffentlichen Bereichen tobt allerdings der Mob, und der ist immer häufiger völkisch-national, fremden- und demokratiefeindlich sowie zutiefst blaubraun gefärbt. Typisch für diese Angriffe ist, dass sie oft in himmelschreiend schlechter Orthografie vorgetragen werden, während zugleich oft die Höhe der deutschen Kultur im Vergleich zum Islam, den USA oder der jeweils tagesaktuell feindlichen Gruppe beschworen wird.

Kaum jemand, der auf Facebook mit offenem Visier und unter realem Namen völlig normale Kommentare zu Politik, Wirtschaft oder Kultur abgibt, ist dort noch nicht von den unterschiedlichsten Polit-Aktivisten und einer Horde von Trollen und Fake-Profilen angegriffen, denunziert oder sogar bedroht worden. Oft sind diese Profile nur wenige Tage oder sogar Stunden alt und tarnen sich mit allerlei unechten Namen, Profilbildern von Haustieren oder gestohlenen Fotografien.  Mehr als einmal wurden mir selbst ungewollte Hausbesuche, Körperverletzungen oder sogar die Vergewaltigung meiner Frau angedroht.

Trotz Druckes aus der Politik und des verunglückten Netzwerk-Durchsetzungsgesetzes (NetzDG) (das von dem recht hohen illiterarischen Anteil der rechtsextremen Facebook-Horden oft fälschlich zum „Netzwerk-Durchsuchungsgesetz“ umdeklariert wird), tut Facebook recht wenig, um den rechtsextremen Tendenzen Herr zu werden. Das mag sich einerseits durch die Unfähigkeit und Überforderung der Mitarbeiter der Bertelsmann-Tochter Arvato erklären, die Facebook als deutsche Kontrollinstanz engagiert hat. Andererseits wird aber auch das geschäftliche Kalkül des Netzwerks einen gehörigen Anteil haben, denn die AfD und ihre Klientel sind dankbare Werbekunden, die von Facebook im Bundestagswahlkampf sogar strategisch beraten wurden, wie sie ihre fake news am wirkungsvollsten in den digitalen Äther streuen und bei den Wählern maximale Wirkung erzielen können.

Gesperrt werden dagegen seit Monaten immer mehr Menschen, die darüber nicht länger schweigen und ihre Stimme gegen Rassisten und Rechtsextremisten erheben. Dahinter mag auch die Strategie dieser Leute stecken, kritische Kommentare massenhaft über von Einzelnen gesteuerte Accounts zu melden, so dass eine automatische Sperrung erfolgt. Automatisierte Sperrsysteme, die allein auf die Zahl von Meldungen reagieren, sind mit Zitaten von verfassungsfeindlichen und volksverhetzenden Äußerungen und erst recht mit Stilmitteln wie Ironie und Sarkasmus ganz offenbar noch überfordert. So passierte es auch mir mehrfach, dass ich in politischen Diskussionen plötzlich für einen oder mehrere Tage gesperrt wurde.

Ein solches bewusst dysfunktionales System möchte ich nicht mehr in dem Maße aktiv unterstützen, wie ich es bisher getan habe. Außerdem möchte ich die Kontrolle über meine Inhalte und die Diskussionen mit Freunden und Bekannten behalten – unabhängig davon, ob das einer rechtsextremen Klickarmee und einem schlecht programmierten Algorithmus gefällt oder nicht.

Allerdings habe ich weltweit auch noch hunderte von Freunden und Bekannten auf Facebook, und eine ähnlich funktionale Alternative für diese Plattform ist leider noch nicht in Sicht. Daher werde mich nicht komplett von Facebook zurückziehen. Allerdings wird diese Plattform für mich hinsichtlich meiner Social-Media-Aktivitäten nur noch dritte Wahl sein. Ich habe mich ganz bewusst dafür entschieden, mein zu Studien- und Referendarszeiten geführtes Blog Obiter dictum wieder zu reaktivieren. Gleichzeitig twittere ich wieder erheblich mehr als früher. Sowohl die hiesigen Blogbeiträge als auch die Twitter-Tweets erscheinen auf meinem Facebook-Profil.

Die Facebook-, Instagram- und Messenger-Apps auf meinem Smartphone habe ich mittlerweile gelöscht. Wer sicher gehen will, mich zu erreichen, sollte daher nicht auf Facebook, sondern entweder hier einen Kommentar hinterlassen, mich auf Twitter kontaktieren oder ganz altmodisch eine E-Mail schreiben. Ich freue mich über (fast) jeden Kommentar zu den künftigen Artikeln in diesem Blog. Allerdings gebe ich auch ein Wort der Warnung mit auf den Weg: Wer glaubt, er könne hier auf dem gleichem Niveau wie bei Facebook rechtsextreme Hetzparolen von sich geben, wird daran nicht lange Freude haben, Als linksgrünversiffter antideutscher Rotfaschist (früher auch bekannt als CDU-Mitglied) bin ich es nämlich mittlerweile gewohnt, bei demokratie- und rechtsstaatswidrigen Sprüchen auf das Lösch-Knöpfchen zu drücken.

In diesem Sinne: Auf ein Neues!