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Twitter kippt nach rechts

Pünktlich zum Jahrestag der Bücherverbrennung am 10. Mai hat es der Kurznachrichtendienst Twitter geschafft, zahlreiche Accounts von Juristen, Politikern, Publizisten und anderen Nutzern zu sperren – darunter auch meinen. Was ist passiert? Das soziale Netzwerk hat neue Regeln eingeführt, um zu verhindern, dass Falschinformationen zur Europawahl am 26. Mai 2019 verbreitet werden. Dieses an sich löbliche Ansinnen hat Twitter aber entweder extrem schlecht programmiert, so dass auch uralte Tweets sowie leicht erkennbare Ironie direkt zu einer Sperre des Accounts führen. Oder, und das erscheint angesichts der Nicht-Reaktion des Netzwerks mittlerweile nicht unwahrscheinlich, die Twitter-Eigentümer verfolgen mittlerweile eine Agenda am rechten politischen Rand.

Anders als manch feixende Rechtsextreme behaupten, hat diese Sperre allerdings nichts mit dem Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG) zu tun, das dafür sorgen soll, volksverhetzende und sonst strafbare Inhalte in sozialen Netzwerken wirksam zu unterbinden. Die Entscheidungen Twitters, auch völlig rechtskonforme Informationen zu entfernen, kann es jedenfalls nicht auf das NetzDG stützen. Denn rechtlich nicht zu beanstandende Äußerungen werden vom Anwendungsbereich des NetzDG überhaupt nicht erfasst, was man leicht am Wortlaut des § 3 des kurzen Gesetzes erkennen kann. Außerdem beschränkt Twitter sich nicht auf eine Löschung der beanstandeten Tweets, sondern macht den Accountinhaber durch eine Sperre gleich völlig mundtot. Auch mit Zensur hat die Sache nichts zu tun, denn als ich das letzte Mal nachgeschaut habe, war Twitter noch kein staatliche Behörde.

Wahrscheinlich handelt Twitter jedoch rechtswidrig, weil es durch sein Verhalten das Vertragsverhältnis mit den betroffenen Nutzern verletzt. Es ist nämlich ein weit verbreiteter Irrtum, dass kostenlose Dienste wie Twitter gegenüber ihren Benutzern keine vertraglichen Pflichten hätten. Solange Twitter eine Dienstleistung verspricht und mit den empfangenen Daten Geld (z.B. durch die Ausspielung von Werbung) verdient, darf es nicht einseitig Löschungen erzwingen und Zugänge sperren – jedenfalls sofern sich ein betroffener Benutzer zuvor nicht selbst rechts- bzw. vertragswidrig verhalten hat. Irgendwelche Allgemeinen Geschäftsbedingungen, die die neuen Regelungen zur Wahlinformation enthalten und die Twitter nun auch auf alte Tweets anwendet, hat es jedenfalls bei Bestandsnutzern nicht wirksam in das Vertragsverhältnis einbezogen.

Der Grund für meine ganz persönliche Sperre liegt in einem Tweet aus dem Januar  2019, also viele Wochen vor den neuen Twitter-Regeln für Wahlinformationen. Darin hatte ich den alten Witz gebracht, dass AfD-Wähler wohl vergessen hätten, ihren Wahlzettel zu unterschreiben. Dieser Spruch ist so banal, so abgedroschen, so erkennbar unrichtig und so offensichtlich vom Recht der freien Meinungsäußerung umfasst, dass ich mich fast schäme, ausgerechnet deswegen gesperrt worden zu sein. Dass ich mich in sehr guter Gesellschaft befinde, zeigen allerdings die Twitter-Sperren des Rechtsanwalts Kim Manuel Künstner, der PARTEI Niedersachsen, des Sprechers der Berliner SPD-Fraktion Sven Kohlmeier, der Jüdischen Allgemeinen etc. Die Liste ließe sich noch deutlich verlängern.

Twitter hat mir angeboten, den Tweet entweder zu löschen oder gegen die Sperrung Einspruch einzulegen. Ich hänge wahrlich nicht an dem Tweet mit dem alten Witz. Allerdings widerspricht es meinem Charakter, von dem Kakao zu trinken, durch den mich das Unternehmen Twitter gerade zieht. Dieses offensichtlich rechtswidrige Handeln werde ich nicht unterstützen, indem ich einen harmlosen Tweet lösche, nur weil er einigen Gestalten vom rechten Rand nicht gefällt. Deshalb habe ich gleich am Freitag mit einer recht launigen und kurzen Begründung Einspruch gegen die Löschung erhoben. Dieser wurde dann allerdings nicht beschieden. Stattdessen bot mir das Netzwerk am Samstag gleich noch einmal an, Einspruch zu erheben. Das habe ich dann noch einmal getan und in der Begründungszeile gefragt, ob das Unternehmen gesteigerten Wert darauf lege, mit mir eine gerichtliche Auseinandersetzung über die Rechtswidrigkeit des beanstandeten Tweets zu führen. Darauf folgte bis jetzt, Montagabend, keine Reaktion.

Wahrscheinlich sind Twitters Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die mit der Bearbeitung solcher Einsprüche befasst sind, zeitlich und intellektuell deutlich überfordert. Gern werden Entscheidungen über gesperrte Inhalte, sofern sie überhaupt von Menschen und nicht von Algorithmen getroffen werden, in ferne Länder mit anderen Sprachen und billigen Löhnen ausgelagert. Dass Twitter sich rechtlich auf dünnem Eis befindet, zeigt allerdings die meines Erachtens zutreffende Einschätzung der Kanzlei Loeffel Abrar, die ein prozessuales Vorgehen gegen Twitter empfiehlt. Nicht umsonst wird im Netz bereits danach gefragt, ob man nicht das kostengünstige Instrument der verbraucherrechtlichen Musterfeststellungsklage nutzen sollte, um Twitter das rechtswidrige Sperren auszutreiben.

Dass das neue Instrument der Meldung von Falschinformationen zu Wahlen von Rechtsextremen systematisch genutzt wird, um politische Gegner mundtot zu machen, verwundert nicht. Wenn der rechte Rand versucht, selbst so unbedeutende Twitterer wie mich mundtot zu machen, die ohne Prominenz und ohne jegliches politische Mandat nur wenigen tausend Followern ihre oft pointierte, aber zumeist unmaßgebliche Meinung sagen, zeigt das den Fanatismus und die undemokratische Diskurskultur der Rechtsextremen. Seit Jahren versucht der rechte Rand, finanziert aus dubiosen Quellen, jede Äußerung gegen organisierte Menschenfeindlichkeit, Rassismus und Ausländerhass sowie die blaue Nachfolgepartei der NSDAP mundtot zu machen. Ich habe zwar derzeit keinen Zugang zu meinem Twitteraccount, kann aber trotzdem lesen, dass rechtsextreme Troll-Accounts und Antisemiten unter meinen letzten Tweets mit allerlei Häme und falschen Behauptungen meine Sperrung abfeiern. Diese Leute haben offensichtlich nichts anderes zu tun, als den lieben langen Tag Tweets zu melden, die sich kritisch mit den dunklen Machenschaften der Rechtsextremen und ihrer politischen Vertreter auseinandersetzen. Bisher hatte das wenig Erfolg – nun haben sie ein Instrument gefunden, das ihnen Twitter offenbar willig in die Hand gedrückt hat.

Das Ziel der Rechtsextremen besteht in der Hegemonie über den öffentlichen Diskurs. Die AfD und ihre Gesinnungsgenossen haben es in den letzten Jahren vermocht, die Grenzen des Sagbaren immer weiter nach rechts zu verschieben, um die Dümmsten und Bösartigsten dieses Landes dazu zu bewegen, sie ins Parlament zu wählen – bekanntermaßen waren sie damit erfolgreich. Juden- und Islamhass werden in Deutschland mittlerweile wieder offen ausgelebt, einige Teile der (ost-)deutschen Provinz gelten sogar als „national befreite Zonen“. Das nächste Ziel der Rechten besteht darin, sichtbare Exponenten des demokratischen Rechtsstaats und der Zivilgesellschaft zu beschädigen – von der „Merkelnutte“ über die „Klimagöre“ bis hin zum „linksgrünversifften Rechtsverdreher“ (alles Begriffe, die für Twitter übrigens kein Grund zum Sperren sind). Da passt ein Jurist, der (noch) CDU-Mitglied ist und sich stets für die Achtung von Grund- und Menschenrechten ausspricht, ideal ins Feindbild der Rechtsextremen. Warum sollte man auch zwischen Linken, Grünen, Sozial-, Frei- und Christdemokraten differenzieren, wenn sie doch alle Teil des verhassten demokratischen Nachkriegsdeutschlands sind? Wer das nationalsozialistische Unrecht zum „Fliegenschiss“ umlügt, weiß genau, in wessen Fußstapfen er tritt.

Das massenweise Melden führt dazu, dass sich lustigerweise gleich mehrere Twitter-Nutzer damit brüsten, mich zum Schweigen gebracht zu haben. Antisemiten und Muslimhasser (die natürlich „nur gegen Beschneidungen“ oder „nur gegen das Kopftuch“ sind, wer’s glaubt wird selig) geben sich die Klinke in die Hand. Der sich von mir beleidigt fühlende Christoph Lemmer aus Bad Aibling, an den ich mich nicht einmal erinnere und dessen rechtlich unbeholfenes Impressum mich erheitert (Unterlassungsverfügung vor dem Landgericht Hamburg, anyone?), berühmt sich zwar heftig, mich zur Strecke gebracht zu haben. Wahrscheinlicher ist allerdings, dass die Aussage des österreichischen Politikberaters  Robert Willacker stimmt, dass er mich wegen unzutreffender Aussagen zur Wahl gemeldet und Twitter mich auf seine Veranlassung hin gesperrt hat. Laut seinem Profil ist Willacker in der rechtsextremen Verbindungsszene aktiv und in der österreichischen Politik gut vernetzt. Er arbeitet für die Wiener Politikberatungsgesellschaft Policon. Seit ihrer Regierungsbeteiligung hat die FPÖ wieder vermehrt Zugang zu den Finanzmitteln der Republik Österreich und ist daher in der Lage, solche Berater zu finanzieren, die auch in den deutschsprachigen Nachbarländern massiv die Politik beeinflussen (sollen).

Profilbild des rechtsextremen Twitter-Nutzers Robert Willacker. Will er besonders lässig wirken? Kann er sich alleine nicht die Schleife binden? Man weiß es nicht und will es eigentlich auch nicht wissen.

Der rechte Sumpf ist ein gesamteuropäisches Problem, und Twitter nur ein kleines Mosaiksteinchen. Die jüngsten Sperrungen werden auf Antrag der FDP-Fraktion am Mittwoch im Digitalausschuss des Deutschen Bundestages in nichtöffentlicher Sitzung thematisiert werden. Ob das Netzwerk darauf reagieren wird, ist noch ungewiss. Bis dahin haben wir Nutzer eine Option: uns einen anderen Ort zum Diskutieren zu suchen. Es gibt genug Alternativen zu Twitter. Ich werde mein Profil zwar noch nicht löschen, sondern erst noch die Reaktion auf meinen Einspruchs abwarten und dann die möglichen weiteren Schritte überdenken. Für alle Fälle habe ich mir aber schon ein Profil bei Mastodon eingerichtet. Vielleicht sehen wir uns dort, oder gerne auch hier auf dem Blog!

Das Widerstandsrecht des Art. 20 Abs. 4 GG oder Der Streit um den Tyrannenmord (Teil 1)

Etwa eine Woche lang hat ein Shitstorm gegen meine Person angedauert, der von rechtsextremen Kreisen gesteuert und befeuert wurde. Tausende von Hasskommentaren mit Beleidigungen, Bedrohungen und sogar Mordankündigungen haben mich per E-Mail, über die sozialen Netzwerke und sogar über meinen Arbeitgeber erreicht. Auslöser des Hasses ist ein Tweet an einen Juristenkollegen, der sich mit der Legitimität gewalttätigen Handelns nichtstaatlicher Akteure beschäftigt. Im ersten Teil dieser Serie von Blogartikeln habe ich mich mit der grundsätzlichen Frage beschäftigt, ob und wann die Ausübung von Gewalt im demokratischen Rechtsstaat rechtmäßig ist. Der folgende Beitrag beschäftigt sich mit dem Sondertatbestand des Art. 20 Abs. 4 GG, auf den sich mein Tweet bezieht. Im heutigen ersten Teil dieses Beitrags geht es zunächst um die Entstehungsgeschichte der Norm. Der zweite Teil wird sich mit dem Inhalt und den Grenzen des Widerstandsrechts auseinandersetzen.

Im Jahre 1945 lag Deutschland nicht nur materiell, sondern auch moralisch in Trümmern. Das zwölf Jahre andauernde, „tausendjährige Reich“ hatte nicht nur einen verbrecherischen Angriffskrieg vom Zaun gebrochen und weite Teile Europas verheert, sondern auch Millionen von Zivilisten aus niedrigsten Beweggründen ermordet – in den Konzentrationslagern Auschwitz, Majdanek, Belzec, Treblinka und Sobibor sogar auf industrielle Art und Weise. Der deutsche Staat, eine einstmals stolze Kulturnation, war verantwortlich für einen ebenso traurigen wie singulären Höhepunkt in der Verbrechensgeschichte der Menschheit.

Als Reaktion darauf verlor Deutschland nicht nur einen Teil seines Territoriums, dessen bisherige Bewohner größtenteils vertrieben wurden. Es wurde auch den Besatzungsmächten unterstellt, die für eine gewisse Zeit die deutsche Staatsgewalt ausübten. Dass dies, gerade vor dem Hintergrund des soeben beginnenden Ost-West-Konfliktes, kein Dauerzustand bleiben konnte, wurde den Regierungen in Washington, London und Paris sehr schnell klar. Auf der Londoner Sechs-Mächte-Konferenz im Frühjahr 1948, an der neben den drei westlichen Besatzungsmächten auch die Regierungen der Niederlande, Belgiens und Luxemburgs teilnahmen, wurde der zukünftige Status des westlichen deutschen Landesteils intensiv diskutiert. Die Mächte einigten sich auf einen föderativen Staatsaufbau unter internationaler Kontrolle der Montanindustrie. Damit waren nicht nur die Weichen für die Gründung der Bundesrepublik, sondern auch der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl gelegt, die sich mittlerweile zur Europäischen Union weiterentwickelt hat.

Der weitere Verlauf der Geschichte ist bekannt: Auf dem Konvent von Herrenchiemsee und im Parlamentarischen Rat in Bonn wurde das Grundgesetz erarbeitet, das zunächst die westdeutschen Bundesländer annahmen (lediglich Bayern stimmte nur unter dem Vorbehalt zu, dass mindestens zwei Drittel der übrigen Länder das Grundgesetz ratifzierten). Am 23. Mai 1949 stimmte auch der Parlamentarische Rat mit Ausnahme zweier kommunistischer Abgeordnete für die neue deutsche Verfassung.

Als das Grundgesetz am 24. Mai 1949 in Kraft trat, stellte es einen bewussten Gegenentwurf zur nationalsozialistischen Terrorherrschaft dar, indem es die Menschenwürde als zentralen Verfassungswert benannte und den Katalog der Grundrechte für die deutschen Bürgerinnen und Bürger sowie der Menschenrechte den Normen über den Staatsaufbau voranstellte. In Art. 20 GG fanden sich die Staatsprinzipien der Bundesrepublik: Demokratie, Sozialstaat, Bundesstaat und Rechtsstaat. Das Widerstandsrecht, das heute in Art. 20 Abs. 4 GG normiert ist, fand sich zu jener Zeit aber noch nicht in der Verfassung.

Dabei hatte der Parlamentarische Rat ausführlich über die Einführung eines Widerstandsrechts gegen verbrecherisches Regierungshandeln beraten. Besonders der nationalkonservative Abgeordnete Hans-Christoph Seebohm von der Deutschen Partei (DP, später wechselte er zur CDU und wurde langjähriger Bundesverkehrsminister) forderte vehement, eine Widerstandsregelung in das Grundgesetz aufzunehmen:

„Bei Verfassungsbruch sowie rechts- und sittenwidrigem Mißbrauch der Staatsgewalt wird ein Widerstandsrecht anerkannt. Öffentliche Amtsträger sind in diesen Fällen zum Widerstand verpflichtet.“

Dieses Ansinnen scheiterte ausgerechnet an der SPD, deren einflussreicher Abgeordneter Carlo Schmid darin eine „Aufforderung zum Landfriedensbruch“ zu entdecken vermochte. In einigen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts und der Fachgerichte aus den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik betonte die Judikative allerdings, dass ein solches Widerstandsrecht der Rechtsordnung inzwischen nicht mehr fremd sei.

Damit hätte es sein Bewenden haben können. Doch im Jahre 1968 verabschiedete der Deutsche Bundestag vor dem Eindruck des sich verschärfenden Ost-West-Konflikts sowie zunehmender Proteste von Studierenden und anderer Teile der Bevölkerung die Pläne für eine Notstandsverfassung. Neben der militärischen und politischen Begründung für die neuen Grundgesetz-Regelungen über den Ausnahmezustand, den Spannungsfall, den Verteidigungsfall und den Katastrophenfall trat der Wunsch der Bundesregierung, weitere Souveränität gegenüber den alliierten Mächten zu erhalten, deren Notstandsrechte erst mit dem Beschluss der Notstandsverfassung erloschen.

In der Politik und in der allgemeinen Öffentlichkeit fand diese Grundgesetzänderung ein geteiltes Echo. Während viele in ihr eine Stärkung der westdeutschen Demokratie sahen, die mit den neuen Regelungen auch für politisch und militärisch schwierige Zeiten gewappnet war, befürchteten andere Zustände wie am Ende der Weimarer Republik, in der immer kürzer amtierende Regierungen nur noch mittels Notverordnungen regieren konnten – was am Ende geradewegs in die nationalsozialistische Diktatur führte.

Zur Beruhigung der Kritik entschied sich die parlamentarische Mehrheit daher im Juni 1968 und damit rund einen Monat nach Verabschiedung der Notstandsgesetze dazu, auch das Widerstandsrecht in das Grundgesetz aufzunehmen. Damit sollte einerseits Misstrauen in der Bevölkerung gegen einen zu autoritär auftretenden Staat abgebaut und andererseits klar gestellt werden, dass der Schutz des demokratischen Rechtsstaats nicht allein der öffentlichen Gewalt obliegt, sondern zugleich Aufgabe jeder  Staatsbürgerin und jedes Staatsbürgers ist. Denn der neue Art. 20 Abs. 4 GG ist zwar als ultima ratio für die akute, schwerste Bedrohung bzw. den Fall des demokratischen Rechtsstaats ausgestaltet, kann aber zugleich als „Jedermannsrecht“ von jeder und jedem Einzelnen unabhängig von Stellung, Beruf oder Amtsträgereigenschaft in Anspruch genommen werden.

Zugleich beendete die Verabschiedung des Art. 20 Abs. 4 GG auch eine jahrzehntelange Debatte über die Frage, ob die Widerstandstaten gegen das verbrecherische Regime der Nationalsozialisten gerechtfertigt gewesen seien. Denn das Hitler-Regime hatte sich seit der Machtergreifung im Jahre 1933 stets mit dem Schein der Legalität ummantelt und versucht, auch nur die Vermutung eines revolutionären Umbruchs zu widerlegen. Die Gesetze des Kaiserreichs und der Weimarer Republik galten formal weiter, und der nationalsozialistische Gesetzgeber begnügte sich mit „Korrekturen“: Erst strich er Juden und andere Gegner aus dem Kreise der „Volks-“ , dann aus dem der „Rechtsgenossen“, und nach dem sozialen Tod folgte die physische Vernichtung. Der Reichstag wurde erst angezündet, dann komplett ausgeschaltet. Nationalsozialistische „Rechtswahrer“ wie der zwar intellektuell brillante, aber moralisch völlig verkommene Rechtsprofessor Carl Schmitt legitimierten nicht nur jedes materielle Unrecht. Sie erklärten auch die Einhaltung formeller Rechtsvorschriften für obsolet, indem sie den Führerbefehl oder auch nur einen (im schlimmsten Fall fiktiven) Führerwillen als gleichwertig mit dem Gesetz oder ihm sogar übergeordnet sahen.

Dennoch waren viele Deutsche in der jungen Bundesrepublik der Ansicht, dass der Widerstand gegen den Nationalsozialismus, wie sie beispielsweise viele Kommunisten und Sozialdemokraten, die Mitglieder der Weißen Rose oder des Kreisauer Kreises geleistet hatten, unrechtmäßig gewesen sei. Noch bis in die 1970er Jahre galten Angehörige des Widerstandes als Vaterlandsverräter, zumal während des Krieges – heute sieht sie die große Mehrheit der Bevölkerung als Helden an. Der Rechtslehrer Gustav Radbruch, der als erster deutscher Professor am 8. Mai 1933 aus dem Staatsdienst entlassen worden war, verfasste kurz nach dem Krieg noch unter dem Eindruck der NS-Staatstätigkeit seine Lehre vom gesetzlichen Unrecht, das dem überpositiven, gerechten Recht weichen müsse. Mit der Kodifizierung des Widerstandsrechts in Art. 20 Abs. 4 GG  hat sich diese Lehre endgültig durchgesetzt. Im Juni 1968 hat der Deutsche Bundestag letztlich auch ein Zeichen dafür gesetzt, dass der Widerstand gegen das verbrecherische Hitler-Regime gerecht und gut war.

Neben dieser historischen Komponente ist das Widerstandsrecht des Art. 20 Abs. 4 GG auch eine geltende Verfassungsnorm, die nur derzeit (glücklicherweise) keinen Anwendungsbereich besitzt und hoffentlich niemals einen besitzen wird. Wie der Tatbestand des Widerstandsrecht heute ausgestaltet ist, wann er eingreift, was er erlaubt und wo seine tatsächlichen und rechtlichen Grenzen liegen, davon soll im folgenden Blogbeitrag dieser Serie die Rede sein.