Hans Michael Heinig ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Kirchenrecht und Staatskirchenrecht an der Universität Göttingen sowie Leiter des Kirchenrechtlichen Instituts der Evangelischen Kirche in Deutschland. Er hat soeben den lesenswerten Band Säkularer Staat – viele Religionen. Religionspolitische Herausforderungen der Gegenwart vorgelegt.
Heinig versammelt in diesem Buch 15 kurze Aufsätze zu religionspolitischen und religionsrechtlichen Themen, die teilweise zuvor schon in der Zeit, der F.A.Z. oder in der evangelischen Monatszeitschrift Zeitzeichen erschienen sind und die er für diesen Band überarbeitet und erweitert hat. Der Autor wendet sich an eine allgemeine Leserschaft und erklärt kurz, aber stets präzise die Grundzüge des geltenden Verfassungsrechts. Er referiert dabei auch die unterschiedlichen Ansichten zu religionsverfassungsrechtlichen Streitfragen. Erfreulich ist, dass ihn die Perspektive des Staatsrechtslehrers nicht daran hindert, zu vielen der in der Öffentlichkeit kontrovers diskutierten Fragen eine klare und stets reflektierte Position zu beziehen. Heinig stellt sich damit in die löbliche Tradition akademischer Lehrer des angloamerikanischen Sprachraums, die ihr Fachgebiet nicht nur durch wissenschaftliche Fachpublikationen bereichern, sondern es regelmäßig in verständlicher Sprache auch einem allgemeinen Publikum nahebringen.
Schon im ersten Kapitel, das die weltanschauliche Neutralität des Staates zum Thema hat, geht Heinig in medias res: Die religionspolitischen Festlegungen des Grundgesetzes und der weitergeltenden Normen der Weimarer Reichsverfassung erklärt er aus den historischen Erfahrungen seit den Religionskriegen der frühen Neuzeit heraus über den Kulturkampf, den Bruch mit der Staatskirche durch die Revolution im Jahre 1919 bis hin zum Kirchenkampf. Er verortet sie zwischen den Regelungen der amerikanischen Bundesverfassung, die die Religionsgemeinschaften vor dem Zugriff des Staates schützt, und dem französischen Modell des Laizismus, das die spezifischen Erfahrungen mit der katholischen Kirche als Hort der Restauration gegen die in der Revolution von 1789 erkämpften Grund- und Menschenrechte zur Grundlage hat. Auch die Einflüsse des philosophischen Liberalismus, etwa durch John Rawls und Jürgen Habermas, zeigt Heinig an verschiedenen Stellen seines Werkes auf.
Kritisch geht Heinig mit überkommenen Paradigmen des Staatskirchenrechts um, etwa dem vielzitierten Böckenförde-Theorem, demzufolge der freiheitliche, säkulare Staat von Voraussetzungen lebe, die er selbst nicht garantieren könne. Heinig weist zutreffend darauf hin, dass Ernst-Wolfgang Böckenförde diesen in den 1960er Jahren formulierten Satz unter dem Eindruck einer nicht mehr gegebenen religiösen Homogenität und einem nicht immer zwingend positiven Verhältnis der Religionen zum freiheitlichen Staat in späteren Schriften selbst relativiert habe. An vielen Stellen des Buches wird deutlich, dass Heinig stärker auf die Spielregeln der pluralistischen Demokratie mit ihren friedensstiftenden Diskurs- und Verhandlungsverfahren vertraut als auf die unbedingte Zustimmung der Religionsgemeinschaften und ihrer Gläubigen zum säkularen Verfassungsstaat. Er wünscht sich allerdings, dass wie im niederländischen Modell eines “Rats der Religionen” auch in Deutschland neben den beiden christlichen Großkirchen stärker auf die Perspektiven jüdischer, islamischer, christlich-orthodoxer und freikirchlicher Religionsvertreter eingegangen werde.
Dabei würdigt Heinig die Rolle der Religionen in der modernen deutschen Gesellschaft durchaus kritisch: Tendenzen zu Gewalt und Unfreiheit erkennt und benennt er – nicht nur im Islam, sondern auch in anderen religiösen Gemeinschaften. Anders als die AfD, mit deren religionspolitischem Programm sich Heinig in einem eigenen Kapitel beschäftigt (“Auf aberwitzig grobe Verallgemeinerungen folgen unterkomplexe Differenzierungen”, S. 61; “Rechtskulturelle Standards, die der Sicherung des religiös-weltanschaulichen Friedens dienen, werden [von der AfD] systematisch unterlaufen”, S. 62), sieht Heinig genug geeignete Werkzeuge des geltenden Rechts, um mit religiösen Extremisten fertig zu werden. Der Umgang mit dem radikalen Islam ergibt sich laut Heinig aus dem Grundgesetz, das es zum Beispiel erlaube, fundamentalistischen Gruppierungen die Nutzung von Gebetsräumen an Universitäten zu untersagen. Ein Islamgesetz nach österreichischem Vorbild verwirft er dagegen und erläutert nachvollziehbar, warum die österreichischen Regelungen in Deutschland grundgesetzwidrig wären.
Erhellend ist, dass Heinig nicht nur mehrfach das Problem der inneren Verfasstheit islamischer Gemeinden und “Konfessionen” hervorhebt, zum Beispiel angesichts der Frage der richtigen Ansprechpartner für den Abschluss von Staatsverträgen, der Organisation des Religionsunterrichtes oder der Einrichtung islamisch-theologischer Studiengänge. Gleichzeitig liegt nämlich ein weiterer Schwerpunkt der Darstellung auf der Entwicklung des Staatsverständnisses der evangelischen Kirchen seit der Weimarer Republik. Hier lernt der Leser, dass auch protestantische Theologen mit den neuen, demokratischen Verfassungen der Jahre 1919 und 1949 durchaus und über Jahrzehnte Schwierigkeiten hatten: Die Akzeptanz des freiheitlich-demokratischen Staates ist auch vielen Christen, selbst akademischen Lehrern der protestantischen Theologie, zunächst nicht leicht gefallen.
An dieser Stelle hätte sich der Rezensent eines oder besser noch mehrere Kapitel über die Perspektive der katholischen Kirche auf das Religionsverfassungsrecht gewünscht, die von Heinig nur in einem kurzen Nebensatz als vergleichsweise unproblematisch bewertet wird. Gerade im Hinblick auf die verfassungsrechtliche Gleichberechtigung von Mann und Frau und deren Drittwirkung auf die Religionsgemeinschaften wären hier weitergehende Erläuterungen erhellend gewesen.
Lesenswert sind weiterhin die Bewertungen Heinigs zum arbeitsrechtlichen Dritten Weg, wenngleich die Schlussfolgerung, dass wenn dieser entfiele, die Ökonomisierung von Caritas und Diakonie sich weiter verschärfen würde, dem Rezensenten nicht zwingend zu sein scheint. Das als Polemik überschriebene Kapitel zu den Evangelischen Kirchentagen enthält scharfsinnige, aber auch schmerzhafte Beobachtungen zum Stand der Laienrepräsentation innerhalb der evangelischen Kirche – wer möchte sich schon gerne in einer Reihe “protestantischer Wutbürger” sehen, organisiert von Vertretern “fortdauernde[r] Clanstrukturen” (gemeint sind die familiären Kontinuitäten der Personen, die die Organisation der Kirchentage verantworten) ? Immerhin gesteht der Autor dem Evangelischen Kirchentag eine Entwicklungsmöglichkeit zu einer “gesellschaftliche[n] und theologische[n] Lernwerkstatt” zu.
Auch für die Zukunft sieht Heinig weitere religionspolitische Streitfragen voraus: Wie werden wir es mit akademisch gebildeten Muslimas halten, die als Zeichen ihrer kulturellen Identität auch im Staatsdienst als Lehrerinnen oder Richterinnen ein Kopftuch tragen wollen? Wird es in Zukunft islamische Feiertage geben, sollten konfessionelle Feiertage künftig im Rahmen eines Rotationssystems jährlich wechseln, oder wäre es besser, als Teil der deutschen Identitätspolitik das Ende des 2. Weltkriegs, den Mauerfall oder den Tag des Grundgesetzes zu feiern? Und was passiert, falls die AfD jemals in Regierungsverantwortung kommen, sich dann aber nicht an das Religionsverfassungsrecht halten sollte?
All diese Fragen diskutiert Heinig an, eröffnet Perspektiven und lädt zum eigenen Nachdenken ein. Es bleibt zu hoffen, dass dem mit knapp 140 Seiten relativ schmalen Band noch viele weitere folgen werden.
Hans Michael Heinig: Säkularer Staat – viele Religionen. Religionspolitische Herausforderungen der Gegenwart, erschienen im Kreuz-Verlag, Stuttgart, 14 Euro.